Die schöne Diebin
auf uns.“ Trotzdem versuchte sie nicht, vor ihm zurückzuweichen – und sei es auch nur um einen Millimeter. „Man wird über uns klatschen. Können Sie das ertragen?“
„Ich bin der einzige adlige Gast hier und der Einzige, der sich in der Hauptstadt in den besten Kreisen bewegt“, entgegnete er. „Niemand wird mein Wort anzweifeln, wenn ich behaupte, dies sei die Art, wie man in London Walzer tanzt.“
Er wandte den Blick kurz von ihrem strahlenden Gesicht ab, um ein Paar zu mustern, das ihn und Nora fassungslos anstarrte. Dann wirbelte er seine Partnerin, sofern das überhaupt möglich war, mit noch größerer Leidenschaft herum.
Ihre Körper passten so gut zusammen, als seien sie füreinander geschaffen. Er führte, und sie folgte jeder seiner Bewegungen mit der ihr eigenen Sinnlichkeit. Ihr war jetzt wirklich, als flöge sie. Welche Seligkeit! Es musste eine Ewigkeit her sein, dass sie so selbstvergessen und voller Hingabe getanzt hatte. Noch nie aber hatte sie einen solchen Meister zum Partner gehabt.
Ihr fiel ein, dass er den Spitznamen Cock of the North trug. Das bedeutete nicht nur „Hahn im Korb“, sondern war auch der Name eines temperamentvollen schottischen Volkstanzes. Mit klopfendem Herzen stellte sie sich vor, wie er mit ihr durch sein Schlafzimmer tanzte, bis sie tatsächlich im Bett landeten.
Die Musik verklang, aber auf Noras Gesicht lag noch immer ein verzücktes Lächeln. Auch der Earl lächelte, stellte sie fest. Aber nicht so, wie sie das vom Tee bei Miss Habersham und im Blue Boar in Manchester gewohnt war. Es war ein Lächeln, das ihn völlig veränderte.
Einen Moment lang schien alles Trennende zwischen ihnen überwunden zu sein. Stockports Blick war so warm, als genösse er Noras Gesellschaft wirklich. Sie schauten sich an, als teilten sie ein Geheimnis miteinander, in das sie den Rest der Welt nie einweihen würden.
Dann erlosch sein Lächeln. Plötzlich war Brandon sich wieder der Tatsache bewusst, dass er sich auf Squire Bradleys Weihnachtsball befand und dass seine Tanzpartnerin niemand anders als eine gesuchte Verbrecherin war. Der Zauber zerbrach.
Nora zuckte zusammen, als die Finger des Earls sich einen Moment lang fest um ihr Handgelenk schlossen. Sie hatte nicht vor, sich von ihm zu Tisch führen zu lassen, wenn gleich das Mitternachtssouper serviert wurde. Er musste ja selbst wissen, dass das unmöglich war. Denn vor dem Essen würden alle Gäste ihre Maske abnehmen.
„Ich werde nicht mit Ihnen zu Tisch gehen“, stellte sie fest.
„Ich hatte nicht vor, Sie darum zu bitten. Denn ich ziehe es vor, nicht mit gemeinen Dieben zu speisen.“
„Dann werden Sie wohl heute Nacht hungern müssen, denn die meisten der Anwesenden haben sich auf Kosten anderer bereichert.“ Vor Zorn färbten ihre Wangen sich rot. Hatte er schon wieder vergessen, dass gerade sie nicht aus Eigennutz stahl, sondern um Menschen zu helfen, die durch das skrupellose Verhalten von Fabrikbesitzern und wohlhabenden Geschäftsleuten in Not geraten waren?
Spätestens, wenn er die Textilfabrik in Betrieb nimmt, wird er zu je nen gehören, die ich so verachte!
Sie schob den Gedanken weit von sich und wandte sich der Terrassentür zu. Obwohl sie sich nicht nach Stockport umschaute, wusste sie, dass er ihr folgte.
Als sie in die Nacht hinaustrat, begann sie zu zittern. Mit dieser Kälte hatte sie nicht gerechnet!
„Darf ich Ihnen meinen Rock anbieten?“ Schon hatte er ihn ausgezogen und ihr über die Schultern gelegt.
„Wollen Sie das wirklich für eine Diebin tun?“, fragte sie in scharfem Ton.
„Vergessen Sie nicht: Ich bin ein Gentleman.“ Er zog sich die Maske vom Gesicht und legte sie auf die kleine Mauer, die die Terrasse umschloss. „So ist es besser. Ich mag diese Dinger nicht.“
Nora erwiderte nichts, machte aber keine Anstalten, ihre eigene Halbmaske abzunehmen.
Nachdenklich musterte Brandon die schlanke junge Frau, die seinen Blick herausfordernd erwiderte. „Wie viel von dem Geld, das Sie für Ihre Schützlinge stehlen, haben Sie für das Ballkleid ausgegeben?“, verlangte er zu wissen. „Glauben Sie nicht, es wäre den Hungrigen lieber gewesen, Sie hätten Lebensmittel gekauft?“
„Wie können Sie es wagen, meine Ehrbarkeit infrage zu stellen!“, fuhr Nora auf. „Dieses Kleid habe ich als Spende von einer Dirne bekommen, die sich etwas Moderneres anschaffen wollte. Ich habe es für mich geändert.“
„Tatsächlich? Das erinnert mich an die Geschichte von
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