Die schöne Diebin
und schwach. Tatsächlich verriet seine ganze Haltung, dass er – wenn nötig – zu kämpfen bereit war.
Jetzt jedoch sprang er zu Boden und half beim Ausladen der Körbe. „Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie begleite?“
„Natürlich.“
Die kleine Gruppe betrat einen stinkenden Flur und ging von Tür zu Tür. Überall wurden sie mit Freude und Dankbarkeit empfangen. Kleine Hände streckten sich ihnen entgegen. Kinderaugen leuchteten auf, wenn The Cat ein Päckchen aus dem Korb holte und es einem der Jungen oder Mädchen reichte. Mütter dankten mit leiser Stimme, wenn sie Lebensmittel oder ein paar Münzen erhielten. Männer sah man kaum.
Wie immer wollte die Not, die hier herrschte, Nora das Herz zerreißen. Sosehr The Cat sich auch anstrengte, nie konnte sie genug für die Armen tun. Schon bald befand sich nichts mehr in den Körben. Der Gedanke, die anderen Güter, die noch im Wagen verstaut waren, hereinzuholen, war verführerisch. Doch dann würden all jene, die noch auf ihre Wohltäterin warteten, leer ausgehen.
Als sie das Haus verließen, überlegte Nora, ob Stockport wohl bemerkt hatte, dass es Türen gab, an denen sie nicht geklopft hatten. Hinter diesen wohnten Trunkenbolde und andere Menschen, denen nicht zu helfen war.
Brandon schwieg. Auch als er Nora beim Aufsteigen auf den Kutschbock half, kam kein Wort über seine Lippen. Erst als er die Zügel in die Hand nahm, fragte er: „Wohin jetzt?“
Nachdem sie in Chorlton-on-the-Medlock, in Beswick und einem weiteren Elendsviertel Halt gemacht hatten, erreichten sie schließlich Anacoats. Hier lebten die Ärmsten der Armen. Zu ihnen gehörte die verwitwete Mary Malone.
Als Nora an der Tür zu ihrer Wohnung klopfte, waren von drinnen aufgeregte Kinderstimmen zu vernehmen. Eine Frau rief: „Benehmt euch!“ Dann folgte ein heftiger Hustenanfall.
Nora schluckte. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um sich die Angst vor dem, was sie hinter der Tür erwartete, nicht anmerken zu lassen. Himmel, wenn sie nicht bald eine Möglichkeit fand, Mary wirklich zu helfen, dann würden die Kinder noch vor dem Frühling Vollwaisen sein!
„Was ist?“, erkundigte Brandon sich leise.
„Ich fürchte, Mrs. Malones Zustand hat sich verschlechtert. Sie ist schon seit November krank. Ich habe ihr Medizin besorgt, doch die scheint nicht zu helfen.“
„Ist sie in ärztlicher Behandlung?“
Fassungslos schaute Nora zu ihm auf. „Wenn sie genug Geld hätte, einen Arzt zu bezahlen, würde sie vermutlich keinen brauchen.“
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Unaufgefordert trat Nora ein. Ein kleines Mädchen und ein kaum größerer Junge schauten zu ihr auf, begannen um sie herumzutanzen und riefen: „Auf den Arm! Bitte, auf den Arm!“ Ein etwas älterer Junge grüßte höflich, hielt sich aber im Hintergrund.
Nora bückte sich und nahm das jüngste Kind hoch. „Warst du denn brav, Anna?“
Die Kleine riss die großen Augen noch weiter auf und nickte. Dann steckte sie sich den Daumen in den Mund und musterte den Earl, der hinter Nora eingetreten war.
„Wer is’n das?“
„Das ist jemand, der mir heute hilft.“ Sie setzte das Mädchen ab und bedeutete Stockport, den Korb auf den Tisch zu stellen.
Die beiden Jungen kamen herbei und beäugten den Korb hoffnungsvoll.
„Ich habe euch etwas Besonderes als Weihnachtsessen mitgebracht“, erklärte Nora. „Allerdings brauche ich Hilfe, damit zum Fest alles so wird, wie ich es mir wünsche. Wenn ihr euch geschickt anstellt und recht lieb seid, habe ich vielleicht sogar noch ein Geschenk für euch.“
Die Kinder strahlten.
Während Nora sich aus ihrem warmen Mantel schälte und den Hut mit dem Schleier abnahm, erklärte sie den Jungen, was sie tun sollten. Schließlich erhielt auch die kleine Anna eine Aufgabe.
Zu ihrer Überraschung stellte Nora fest, dass Stockport die Zeit genutzt hatte, sich mit Mary Malone bekannt zu machen. Nun unterhielt er sich angeregt mit der verwitweten Mutter der drei Kinder.
Zufrieden hängte Nora den Kessel mit Eintopf, den sie mitgebracht hatte, übers Feuer und begann zu rühren. Der älteste Junge war unterdessen damit beschäftigt, das Zimmer zu fegen. Mary tat ihr Bestes, um ihr ärmliches Heim sauber zu halten. Doch während der letzten Wochen hatte ihre Krankheit sie so geschwächt, dass sie kaum noch in der Lage war, auch nur das Nötigste zu erledigen. Hinzu kam die ständige Sorge um die nächste Mahlzeit. Wie sollte sie ihre Söhne und die kleine
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