Die schöne Diebin
Stockport-on-the-Medlock Straßenräuber auflauern würden.
Er griff nach den Zügeln, und das Zugpferd setzte sich in Bewegung. Schweigend legten sie das erste Stück des Wegs zurück. Schließlich fragte Brandon leise: „Warum haben Sie mich heute mitgenommen?“
„Sie wollen in Stockport-on-the-Medlock eine Fabrik bauen. Aber haben Sie über die Folgen nachgedacht? Sind Sie bereit, all das, was Sie heute gesehen haben, in Kauf zu nehmen?“ Sie warf ihm einen forschenden Blick zu. „Sie haben selbst erlebt, wie wenig man tun kann, um das Schicksal derer zu erleichtern, die Not leiden. In vielen Familien arbeiten selbst die Kinder, und dennoch können sie nicht einmal genug Essen kaufen, um satt zu werden.“
Brandon fand, dass er den unausgesprochenen Vorwurf verdient hatte. Er wusste natürlich, dass es Kinderarbeit gab. Viele Fabrikbesitzer waren völlig skrupellos und dachten nur an ihren eigenen Vorteil. Für sie zählte lediglich, dass sie Kindern nicht so viel zu zahlen brauchten wie Erwachsenen. Als Mitglied des Oberhauses hatte er Berichte über die Zustände in den schnell wachsenden Industrieregionen gelesen. Aber nie zuvor hatte er das Elend der Arbeiterfamilien mit eigenen Augen gesehen.
„In unserer Textilfabrik werden wir keine Kinder beschäftigen“, sagte er.
„Welch edle Absicht! Wir werden ja sehen, wie lange es dauert, ehe die ersten Kinder unter die Maschinen kriechen müssen. Die Investoren werden bald feststellen, dass ihr Verdienst größer ist, wenn sie nicht nur Erwachsene einstellen.“
Da er angenommen hatte, sein Versprechen würde The Cat gefallen, war er über ihre Reaktion enttäuscht. Er hatte geglaubt, sie würde ihren Widerstand gegen die Fabrik aufgeben oder zumindest begreifen, dass der Abgrund zwischen ihnen, zwischen ihr und ihm, nicht so tief war, wie sie bisher geglaubt hatte. Bei Jupiter, er wollte ihr beweisen, dass ihre Ansichten nicht so weit auseinanderlagen, wie sie immer behauptete!
Plötzlich wurde er zornig. „Was wollen Sie eigentlich? Sind Sie denn nie zufrieden? Ist Ihnen denn nie etwas genug?“
„Sie haben doch heute selbst gesehen, dass es nie genug ist!“, gab sie heftig zurück. „Es gibt nicht genug Helfer, um allen, die Unterstützung brauchen, auch nur ein kleines Weihnachtsgeschenk zu bringen. Es gibt nicht genug Geld, um einen Arzt für Mary Malone zu bezahlen. Es gibt nicht genug Mitgefühl, um Kinder vor Verkrüppelung und Tod in den Fabriken zu bewahren.“ Sie holte tief Luft. „Allein in unserer Gegend gibt es über fünfzig Tuchfabriken. Glauben Sie wirklich, wenn eine einzige davon keine Kinder beschäftigt, würde das einen Unterschied machen?“
„Es wäre zumindest ein Anfang!“
„Ach ja? Und was ist mit all den anderen Fabriken?“
„Auf die habe ich keinen Einfluss. Aber da, wo ich etwas zu tun vermag, tue ich es!“ Er schloss mit einem Fluch und starrte dann entschlossen auf die Straße. The Cat wollte er nicht mehr ansehen. Hinter dem Schleier konnte er ja nicht einmal ihre Augen erkennen! Es war überaus unbefriedigend, mit jemandem zu streiten, den man nicht anschauen konnte.
Nach einer Weile beschloss er, das Thema zu wechseln. „Ihnen sollte klar sein, dass ich auch nur ein Mensch bin. Habe ich Sie heute wirklich so enttäuscht?“
Nora überlegte sich ihre Antwort gut. „Sie haben sich gut gehalten“, sagte sie schließlich.
„Aber?“, drängte er.
„Aber dies war nur ein Tag von dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr. Was werden Sie an all den anderen machen?“
Gegen seinen Willen schaute er nun doch wieder zu ihr hin. Er war wütend. „Ich habe nicht die Absicht, Ihrem Beispiel zu folgen und andere auszurauben.“
Das waren grausame, ungerechte Worte, und er bedauerte sie, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Ihm wurde bewusst, dass er nicht nur auf die geheimnisvolle Diebin, sondern auch auf die Welt zornig war, in der Menschen unter so elenden Umständen leben mussten. Außerdem war er ärgerlich auf sich selbst.
Plötzlich schämte er sich. Gab es auch nur einen Grund, so zufrieden mit sich und seinem Leben zu sein, wie er das bisher gewesen war? Er war stolz darauf gewesen, dass er in der Fabrik in Stockport-on-the-Medlock keine Kinderarbeit zulassen wollte. Er hatte sich etwas auf seine politischen Überzeugungen zugute gehalten. Aber tatsächlich hatte er nicht wirklich viel getan, um das Los der Armen zu erleichtern. The Cat hingegen riskierte ihre Freiheit und vielleicht sogar ihr
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