Die schöne Diebin
Dolch“, forderte Brandon sie auf.
Sie zögerte, tat dann aber, was er verlangte. Mit einer raschen Bewegung fügte er sich eine heftig blutende Wunde an der Hand zu.
„O Gott!“
„Los jetzt! Und vergiss nicht, in Stockport Hall auf mich zu warten. Dort befindest du dich in Sicherheit. Denn dort kann ich dich beschützen.“
Nora war unbemerkt ins Schlafzimmer des Earls eingedrungen, hatte die schwarze Kleidung der Katze ausgezogen, sich in einen seidenen Morgenrock gehüllt und es sich vor dem offenen Kamin bequem gemacht. Das kleine Feuer strahlte eine angenehme Wärme aus.
Während des Ritts waren ihr zwei Dinge klar geworden. Erstens: Brandon hatte ihretwegen ein großes Risiko auf sich genommen. Zweitens: Sie hatte sich von Anfang an darauf verlassen, dass er genau das tun würde.
Die Erkenntnis erstaunte sie, denn es war lange her, dass sie jemandem so bedingungslos vertraut hatte. Dabei kannte sie Stockport doch kaum! Eigentlich wusste sie nur, dass er ganz andere Ziele verfolgte als sie. Er war es, der sich für die Fabrik einsetzte, deren Bau sie unbedingt verhindern wollte.
Allerdings war er auch ein Mann, der die Notleidenden unterstützte. Das hatte er am Weihnachtsabend auf dem Rückweg von Manchester bewiesen. Aber würde sein soziales Gewissen ihn davon abhalten, The Cat verhaften zu lassen? Für seinen Ruf wäre es von unschätzbarem Wert, wenn er persönlich den Einbrecher der Gerichtsbarkeit übergeben könnte.
In diesem Moment hörte sie Stimmen. Mehrere Männer unterhielten sich miteinander. Oder stritten sie? Jemand sagte: „Wir sollten das Haus durchsuchen.“ Und ein anderer warnte den Earl, dass es gefährlich sein könne, wenn er allein daheim war, während The Cat sich noch auf freiem Fuß befand.
Stockport widersprach.
Nora runzelte die Stirn. Der Wortwechsel, den sie gehört hatte, schien zu beweisen, dass Brandon niemandem erzählt hatte, dass der Einbrecher in Wirklichkeit eine Frau war. Aber hatte er ihr Vertrauen nicht schon missbraucht, indem er die Investoren mitgebracht hatte? Wollte er den Männern womöglich die schwarz gekleidete Katze präsentieren?
Sie schaute an sich herunter und begann zu lächeln. Man würde The Cat an diesem Abend nicht finden. Aber Stockport und seine Begleiter würden dennoch eine Überraschung erleben.
Entschlossen sprang Nora auf und zupfte vor dem Spiegel ein wenig an ihrem Haar, bis es aussah, als habe sie bereits im Bett gelegen. Dann zog sie den Gürtel des Morgenmantels fester um die schmale Taille und trat, einen Ausdruck größter Unschuld auf dem Gesicht, ins Treppenhaus hinaus.
13. KAPITEL
„Darling, was ist dir zugestoßen?“, rief die Sirene, die plötzlich oben an der Treppe aufgetaucht war, besorgt aus.
Brandon und seine fünf Begleiter blieben abrupt stehen und verstummten. Alle starrten fassungslos auf die dunkelhaarige Schönheit, die nichts weiter als einen Herrenmorgenmantel trug.
„Deine Kleidung ist ruiniert und deine Hand … Um Himmels willen, du bist ja verwundet!“ Die Erscheinung mit den ungewöhnlichen grünen Augen schlug erschrocken die Finger vor den Mund und begann dann zögernd, so als fürchte sie, noch Schlimmeres zu entdecken, die Stufen hinabzusteigen.
Jetzt zweifelte niemand mehr daran, dass die junge Dame unter dem Morgenmantel nackt war.
Brandon, der Nora genauso fasziniert beobachtete wie die anderen, wusste nicht recht, ob er eher amüsiert oder eher entsetzt sein sollte. Sie war wunderbar, wie sie ihnen allen voller Mut entgegentrat. Er selbst hatte sich seit einer halben Stunde vergeblich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seine Begleiter loswerden konnte. Die Investoren hatten darauf bestanden, ihn nach Stockport Hall zu begleiten. Sie waren offensichtlich wirklich in Sorge um sein Wohlergehen, und es hätte undankbar – oder gar verdächtig – gewirkt, wenn er sie einfach fortgeschickt hätte.
Jetzt sah es so aus, als hätte Nora den perfekten Ausweg aus seinem Dilemma gefunden. Mit ihren weit aufgerissenen Augen und dem zerzausten Haar sah sie hinreißend aus, unschuldig und verführerisch zugleich.
„Mylord …“ Selbst Witherspoon hatte es einen Moment lang die Sprache verschlagen. Der Mann schien zutiefst verwirrt zu sein. Wenn es um geschäftliche Dinge ging, war er skrupellos. Doch im Privatleben war er ausgesprochen prüde.
Nora stand jetzt vor Stockport und legte ihm besitzergreifend die Hand auf den Arm. „Ich habe dich in Verlegenheit gebracht. Dafür möchte ich
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