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Die schöne Diva von Saint-Jacques

Die schöne Diva von Saint-Jacques

Titel: Die schöne Diva von Saint-Jacques Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ins Krankenhaus gebracht worden. Trotzdem hatte sie es abgelehnt, Anzeige zu erstatten, und so waren auch keine Ermittlungen aufgenommen worden. Die Journalisten waren auf Spekulationen angewiesen und vermuteten, der Überfall sei die Tat eines Statisten gewesen, da das Theater zu dieser Uhrzeit für die Öffentlichkeit noch geschlossen war. Eine mögliche Schuld eines der fünf Sänger der Truppe war schnell ausgeschlossen worden: zwei von ihnen waren berühmte Sänger, und alle hatten erklärt, erst später ins Theater gekommen zu sein, was die Pförtner, alte Männer, die ebenfalls nicht in Frage kamen, bestätigt hatten. Zwischen den Zeilen war zu lesen, daß die sexuellen Neigungen der fünf männlichen Sänger sie noch eindeutiger von jedem Verdacht freisprachen als ihr Ansehen oder der Zeitpunkt ihres Eintreffens. Was die zahlreichen Statisten anging, so erlaubte die ungenaue Beschreibung der Sängerin keinerlei bestimmten Verdacht. Jedoch, so führte einer der Journalisten aus, seien zwei Statisten bei der Aufführung am folgenden Tag nicht wieder erschienen. Der Journalist räumte allerdings ein, daß dies ein recht gewöhnlicher Vorgang in der Welt der Statisten sei. Meist waren es junge Leute, die häufig pro Aufführung bezahlt wurden, immer auf dem Sprung waren und immer bereit, eine Vorstellung wegen vielversprechender Werbeaufnahmen sausen zu lassen. Er räumte auch ein, daß es ebensogut einer der Männer vom technischen Personal gewesen sein könne.
    Ein großes Spektrum möglicher Täter. Mit gerunzelter Stirn wandte sich Marc wieder den Kritiken von Daniel Dompierre und René de Frémonville zu. Es waren reine Musikkritiken, sie ließen sich nicht über die Umstände des Überfalls aus und vermerkten nur, daß für Sophia Simeonidis drei Tage lang ihre Zweitbesetzung, Nathalie Domesco, einspringen mußte, deren abscheuliche Nachahmung‹ der Elektra den Rest gegeben habe, einer Elektra, die auch Sophia Simeonidis’ Rückkehr nicht mehr habe retten können: Nachdem sie aus dem Krankenhaus zurückgekommen sei, habe die Sängerin von neuem ihre Unfähigkeit bewiesen, diese Rolle für großen dramatischen Sopran zu singen. Die Kritiken endeten damit, daß der Schock, den die Sängerin erlitten habe, nicht die Unzulänglichkeit ihrer Stimmlage entschuldigen könne und daß sie einen bedauerlichen Irrtum begangen habe mit dieser Elektra, die weit über ihren stimmlichen Fähigkeiten liege.
    Das erboste Marc. Sicher, Sophia hatte ihnen selbst gesagt, daß sie nicht »die Simeonidis« gewesen sei. Sicher, Sophia hätte sich vielleicht nicht an Elektra wagen sollen. Vielleicht. Er kannte sich da nicht aus, genausowenig wie Lucien. Aber dieser vernichtende Dünkel der beiden Kritiker brachte ihn auf. Nein, das verdiente Sophia nicht.
    Marc griff nach anderen Kartons mit anderen Opern. Darin ebenfalls begeisterte, einfach schmeichelhafte oder zufriedene Kritiken, immer jedoch auch beißende Vorwürfe seitens der Kritiker Dompierre und de Frémonville, selbst da, wo Sophia sich strikt auf ihr Fach, den lyrischen Sopran, beschränkte. Ganz entschieden mochten diese beiden Sophia nicht, und zwar von Anfang an. Marc stellte die Kartons zurück, stützte den Kopf auf die Hände und dachte nach. Es war schon fast dunkel, und Lucien hatte zwei kleine Lampen angemacht.
    Sophia war überfallen worden... Sophia hatte keine Anzeige erstattet. Noch einmal sah er in das Elektra- Dossier und überflog rasch die anderen Artikel, die sich mit der Oper beschäftigten und alle ungefähr dasselbe sagten: schlechte Regie, schwaches Bühnenbild, ein Überfall auf Sophia Simeonidis, die erwartete Rückkehr der Sängerin – allerdings mit dem Unterschied, daß diese Kritiken Sophias Versuch, einmal einen dramatischen Sopran zu singen, durchaus schätzten, anstatt ihn niederzumachen wie Dompierre und Frémonville. Er konnte nicht einschätzen, was von diesem Jahrgang 1978 wirklich wichtig war. Dazu hätte er die Möglichkeit haben müssen, alles im einzelnen lesen und wiederlesen zu können. Vergleiche anzustellen, herauszufinden, was die Ausschnitte, die Christophe Dompierre sich vorgenommen hatte, von den anderen unterschied. Er hätte die Artikel abschreiben müssen, zumindest jene, die der Tote gelesen hatte. Das bedeutete Arbeit, viele Stunden Arbeit.
    In diesem Augenblick betrat Simeonidis den Raum.
    »Sie müssen sich beeilen«, sagte er. »Die Polizei sucht eine Möglichkeit, die Einsicht in meine Archive zu verhindern.

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