Die schöne Diva von Saint-Jacques
Sophia ihre Pflicht tun zu müssen.
Aufmerksam hörte Simeonidis ihrer Rede zu, die in Marcs Ohren immer dümmer und schwerfälliger klang, je länger er sie vorbrachte. Er bat sie einzutreten. Ein Polizist in Uniform war im Wohnzimmer gerade damit beschäftigt, eine Frau zu befragen, die Madame Simeonidis sein mußte. Marc wagte nicht, sie zu betrachten, um so weniger, als das Gespräch bei ihrem Eintreten abbrach. Aus den Augenwinkeln konnte er nur eine etwa sechzigjährige, ziemlich rundliche Frau mit Dutt wahrnehmen, die sie mit einem kurzen Kopfnicken begrüßte. Sie war mit den Fragen des Bullen beschäftigt und hatte den dynamischen Ausdruck von Leuten, die als dynamisch beschrieben werden wollen. Simeonidis durchquerte mit Marc und Lucien im Gefolge raschen Schrittes den Raum und legte gegenüber dem Bullen, der in sein Wohnzimmer eingedrungen war, eine betonte Gleichgültigkeit an den Tag. Aber der Bulle bremste sie, indem er sich abrupt erhob. Es war ein junger Typ mit einem verstockten, beschränkten Gesicht, das der unglückseligsten Vorstellung entsprach, die man sich von einem Schwachkopf machen konnte, bei dem Vorschriften das Denken ersetzen. Kein Glück. Lucien stieß einen übertriebenen Seufzer aus.
»Tut mir leid, Monsieur Simeonidis«, sagte der Bulle. »Aber ich kann Ihnen nicht gestatten, wem auch immer Zutritt zu Ihrem Wohnsitz zu gewähren, ohne über den Familienstand dieser Personen und den Grund ihres Besuchs unterrichtet zu sein. Das sind Anweisungen, und man hat Sie darüber in Kenntnis gesetzt.«
Simeonidis lächelte kurz und abfällig.
»Es handelt sich hier nicht um meinen ›Wohnsitz‹, sondern um mein Haus«, sagte er mit seiner klangvollen Stimme, »und es handelt sich nicht um ›Personen‹ sondern um Freunde. Merken Sie sich, daß ein Grieche aus Delphi, der fünfhundert Meter vom Orakel entfernt geboren wurde, keine Anweisungen entgegennimmt, egal von wem. Hämmern Sie sich das in Ihren Schädel.«
»Das Gesetz ist für alle gemacht, Monsieur«, antwortete der Polizist.
»Ihr Gesetz können Sie sich in den Arsch schieben«, erwiderte Simeonidis im selben Ton.
Lucien frohlockte. Genau die Art altes Ekel, mit dem man sich gut hätte amüsieren können, wenn die Umstände ihn nicht so traurig gemacht hätten.
Die Schwierigkeiten mit dem Bullen dauerten noch ein Weilchen an; er nahm ihre Namen auf und identifizierte sie problemlos als die Nachbarn von Sophia Simeonidis, nachdem er sein Notizbuch konsultiert hatte. Aber da nichts dagegen sprach, die Archive mit der Erlaubnis ihres Besitzers einzusehen, mußte er sie ziehen lassen, nachdem er ihnen angekündigt hatte, daß sie auf jeden Fall vor Verlassen des Hauses eine Untersuchung über sich ergehen lassen müßten. Bis auf weiteres dürfe kein Dokument das Haus verlassen. Lucien zuckte mit den Schultern und folgte Simeonidis. In einem Anfall von Jähzorn kehrte der alte Grieche um und packte den Bullen am Revers. Marc dachte, er würde ihm eine reinhauen, was sicher interessant gewesen wäre. Aber der Alte zögerte.
»Also gut...«, sagte Simeonidis nach kurzem Schweigen. »Dann eben nicht.«
Er ließ den Bullen los, wie etwas sehr Schmutziges, und kam wieder zu ihnen. Sie stiegen ein Stockwerk höher, liefen einen Gang entlang, und der Alte öffnete ihnen mit einem Schlüssel, den er am Gürtel trug, die Tür zu einem spärlich beleuchteten Raum mit Regalen voller Ordner und Aktenkartons.
»Sophias Zimmer«, sagte er leise. »Ich vermute, daß Sie sich dafür interessieren?«
Marc und Lucien nickten.
»Denken Sie, daß Sie hier etwas finden werden?« fragte Simeonidis. »Denken Sie das?«
Er fixierte sie mit klarem Blick, mit zusammengepreßten Lippen und schmerzlichem Ausdruck.
»Und wenn wir nichts finden?« fragte Lucien.
Simeonidis hieb mit der Faust auf den Tisch.
»Sie müssen etwas finden«, befahl er. »Ich bin einundachtzig Jahre alt und kann mich nicht mehr so bewegen, wie ich gern würde, und kann nicht mehr alles so verstehen, wie ich gern möchte. Sie vielleicht. Ich will diesen Mörder. Wir Griechen geben nie auf, hat meine alte Andromache gesagt. Leguennec kann nicht mehr frei denken. Ich brauche andere Leute, ich brauche freie Menschen. Mir ist egal, ob Sophia Ihnen einen Auftrag erteilt hat oder nicht. Vielleicht stimmt es, vielleicht ist es falsch. Ich glaube, es ist falsch.«
»Es ist in der Tat ziemlich falsch.« Lucien stimmte ihm zu.
»Gut«, sagte Simeonidis. »Wir kommen uns näher.
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