Die schöne Diva von Saint-Jacques
Ordnung«, sagte er. »Sie können alles wieder einpacken.«
Er verließ das Zimmer und postierte sich in der Diele.
»Wenn ich Sie wäre«, bemerkte Lucien, »würde ich mich eher vor die Tür des Archivs stellen, bis wir weg sind. Wir könnten ja noch mal hochgehen. Das wäre riskant, Gendarm.«
Mürrisch stieg der Bulle die Treppe hinauf und setzte sich mitten in den Archivraum. Lucien bat Simeonidis, ihm den Zugang zu dem kleinen Hof mit den Mülltonnen zu zeigen, und ging hinaus, um sein Paket zu holen, das er in den Tiefen seiner Tasche verstaute. Er dachte, in letzter Zeit hatte er es häufig mit Mülltonnen zu tun.
»Seien Sie unbesorgt«, sagte er dann zu Simeonidis. »All Ihre Originale sind da oben geblieben. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Der Sohn kam etwas zu spät zu Tisch. Langsamen Schrittes, etwa vierzig Jahre alt, schwerfällig – den Drang, unentbehrlich und dynamisch zu erscheinen, hatte seine Mutter ihm nicht vererbt. Freundlich, aber etwas kläglich und zurückhaltend lächelte er den beiden Gästen zu, und Marc empfand Bedauern. Dieser Typ, der als unfähig und entschlußlos galt, der zwischen seiner energischen Mutter und seinem patriarchalischen Stiefvater eingezwängt war, tat ihm leid. Marc war schnell von jemandem eingenommen, der ihn freundlich anlächelte. Und außerdem hatte Julien über Sophias Tod geweint. Er war nicht häßlich, hatte aber ein aufgedunsenes Gesicht. Marc wäre es lieber gewesen, Abneigung zu empfinden oder Feindschaft, na ja, irgend etwas Überzeugenderes, um einen Mörder in ihm sehen zu können. Aber da er noch nie einen Mörder gesehen hatte, sagte er sich, daß ein von seiner Mutter erdrücktes, freundlich lächelndes, weiches Wesen auch gut einer sein könnte. Jemanden ein bißchen zu beweinen mußte ja nichts heißen.
Die Mutter hätte es genauso sein können. Jacqueline Simeonidis lief hm und her und legte mehr Geschäftigkeit an den Tag, als Servieren und Abräumen eigentlich erforderten, war redseliger, als das Gespräch nötig machte, sie war einfach anstrengend. Marc musterte den Dutt in ihrem Nacken, der säuberlich geknotet war, ihre kräftigen Hände, ihre falsche Stimme und Betriebsamkeit, ihre blödsinnige Zielstrebigkeit, mit der sie jedem seine Portion gedünsteten Chicoree mit Schinken servierte, und dachte, daß diese Frau vermutlich alles versuchen würde, um ihre Macht oder ihr Vermögen zu vergrößern und den finanziellen Zusammenbruch ihres trägen Sohnes zu verhindern. Sie hatte Simeonidis geheiratet. Aus Liebe? Weil er der Vater einer bereits berühmten Sängerin war? Weil das Julien die Türen zum Theater öffnete? Ja, er wie sie hatten Gründe, zu töten, und vielleicht auch die Veranlagung. Der Alte natürlich nicht. Marc sah ihm zu, wie er mit kräftigen Gesten seinen Chicoree schnitt. Sein autoritärer Zug hätte einen perfekten Tyrannen aus ihm gemacht, wenn Jacqueline sich nicht zu verteidigen gewußt hätte. Aber das offenkundige Leid des griechischen Vaters schloß jeden wie auch immer gearteten Verdacht aus. Darüber waren sich alle einig.
Marc war gedünsteter Chicoree mit Schinken ein Greuel – außer wenn er wirklich gut zubereitet war, was eine große Ausnahme ist. Er sah, wie Lucien sich vollstopfte, während er mit dieser bitteren und wässrigen Masse kämpfte, die ihn anekelte. Lucien hatte das Gespräch in die Hand genommen, das um das Thema Griechenland zu Beginn des Jahrhunderts kreiste. Simeonidis antwortete ihm mit kurzen Sätzen, und Jacqueline verwendete ihre ganze Energie darauf, ihr lebhaftes Interesse für alles zu bekunden.
Marc und Lucien erwischten den Zug um 22 Uhr 27. Der alte Simeonidis brachte sie im Auto zum Bahnhof, er fuhr entschlossen und zügig.
»Halten Sie mich auf dem laufenden«, sagte er, als er ihnen die Hand schüttelte. »Was ist in Ihrem Paket, junger Mann?«
»Computer und alles, was so dazugehört«, erwiderte Lucien lächelnd.
»Gut«, sagte der Alte.
»Übrigens hat Dompierre den 78er Karton durchsucht, nicht den von 1982«, bemerkte Marc. »Nur damit Sie es wissen. Vielleicht finden Sie ja noch Sachen darin, die uns entgangen sind.«
Marc beobachtete die Reaktion des Alten. Das war verletzend, ein Vater bringt seine Tochter nicht um, wenn man mal von Agamemnon absah. Simeonidis antwortete nicht.
»Halten Sie mich auf dem laufenden«, wiederholte er.
Während der einstündigen Zugfahrt sprachen Lucien und Marc kein einziges Wort. Marc, weil er nächtliche Zugfahrten
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