Die schoene Frau Seidenman
bläulichen Lippen Worte ausgesprochen, die ›O, Polen!‹ oder ›O, ihr Polen!‹ bedeuten konnten, doch blieb die Frage ungeklärt. Dennoch verkündete bei Professor Winiars Beerdigung der Redner, Gymnasiallehrer für Physik, den seit Jahren enge Freundschaft mit dem Verstorbenen verband, den versammelten Trauergästen, der Mathematiker Winiar sei ›auf Posten gefallen‹. Das entsprach der Wahrheit. Den Sarg mit der Leiche des Toten trugen ehemalige Schüler vom Friedhofstor bis zum Grab auf ihren Schultern, darunter auch der Schüler Paweł Kryński, ein mathematisch mittelmäßig begabter, trotzdem von dem Verstorbenen geschätzter Schüler. Unter den beim Begräbnis Anwesenden fehlten der Schüler Fichtelbaum und einige andere Schüler mosaischen Glaubens, deren Schicksal mittelbar Winiars Schicksal beeinflußt hatte. Diese nicht Anwesenden, so durfte man vermuten, waren dem Mathematiker auf dem Weg in die Ewigkeit vorangegangen.
Während der Beerdigung fiel ein feiner, durchdringender Regen. Die Frauen suchten unter Schirmen Schutz, die Männer schurrten in Gummischuhen über die Kiesalleen des Friedhofs. Als der Grabhügel unter den bescheidenen Blumensträußen verschwunden war, gingen die Trauergäste auseinander. Trotz des Regens spazierten manche von ihnen noch eine Weile zwischen den Gräbern herum, lasen die Namen der Toten und ihre in die Steintafeln und Marmorplatten gemeißelten Daten und kommentierten lebhaft das Schicksal derjenigen, die sie persönlich gekannt hatten oder an die sie sich aus Polens Vergangenheit erinnerten. Die älteren Leute machten sich bei diesem Spaziergang mit dem Gedanken an das eigene nahe Hinscheiden vertraut, die jüngeren stärkten ihren Patriotismus. Das eine wie das andere war sehr zeitgemäß. Nicht viele der Trauergäste sollten den Krieg überdauern und die Zeiten erleben, da niemand mehr an Professor Winiar dachte und behauptete, er sei auf Posten gefallen. In den Zeiten, die nach dem Krieg kommen sollten, durfte so ein Liberaler, Christ und Pazifist wie Professor Winiar nicht auf Popularität zählen. Es unterlag keinem Zweifel, der Mathematiker war an der Haltestelle gefallen, nicht auf der Barrikade, er hatte im Sterben nicht den Karabiner, sondern den Regenschirm in der Hand gehalten, zu allem Übel noch einen geflickten, denn der Mathematiker war ein armer Mann.
Am Tage, als man Professor Winiar begrub, drehte sich das Karussell auf dem Krasiński-Platz weiter, die Pferdchen galoppierten, die Kutschen schwankten, die Schlitten glitten, die Gondeln glucksten, die Fähnchen flatterten, die Mädchen kreischten, die jungen Männer riefen, die Drehorgel quietschte, der Mechanismus des Karussells dröhnte, die MG-Schüsse erklangen immer lauter, Artilleriegeschosse explodierten, Flammen rauschten, und nur das Stöhnen der Juden war jenseits der Mauer nicht zu hören, weil die Juden schweigend starben; sie antworteten mit Handgranaten und Handfeuerwaffen, aber ihre Lippen schwiegen, denn sie waren schon gestorben, mehr als je zuvor, sie hatten mannhaft den Tod gewählt, noch ehe er gekommen, sie waren ihm entgegengegangen, in ihren stolzen Augen leuchtete die ganze Erhabenheit der menschlichen Geschichte, spiegelten sich die Brände des Ghettos, die entsetzten Schnauzen der SS-Männer, die erstaunten Schnauzen der rund um das Karussell versammelten polnischen Gaffer, das traurige Gesicht von Professor Winiar, in ihren Augen spiegelten sich alle nahen und fernen Schicksale der Welt, alles Böse der Welt und die Krümel des Guten und auch das bedrückte und zornige, traurige und ein wenig gedemütigte Gesicht des Schöpfers, denn der Schöpfer wandte seine Augen anderen Milchstraßen zu, um nicht sehen zu müssen, was er nicht nur seinem geliebten Volk, sondern allen geschändeten, mitschuldigen, gemeinen, ratlosen, beschämten Völkern der Erde angetan hatte und unter allen Menschen auch dem Menschen, der an der Straßenbahn-Haltestelle stand, genau an derselben Stelle, wo vor Tagen Professor Winiar auf Posten gefallen war, und heiter sagte:
»Die Jidden braten, daß es brutzelt!«
Aus dem rauchverhangenen Himmel fiel jedoch kein Blitz, um diesen Menschen zu treffen, denn so stand es in den Büchern der Schöpfung vor tausendmal tausend Jahren. Und es stand auch darin, daß Professor Winiar etwas früher sterben und die Worte jenes Menschen nicht hören würde, der fröhlich auflachte und zum Karussell hinüberging.
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D er Sattel drückte leicht.
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