Die schoene Helena
Mahlzeit für sie bestellt, was ihr selbst niemals eingefallen wäre, und sie verspeiste eine große Portion kaltes Roastbeef mit Bratkartoffeln. Als er ihr zuschaute, kehrte sein eigener Appetit zurück. Er bestellte das gleiche Gericht, das er heißhungrig zu sich nahm. Noch bevor sie verkündete, sie sei restlos gesättigt, und ihren Teller beiseiteschob, war seiner leer. Da ergriff er wieder seine Gabel und aß, was sie übrig gelassen hatte.
Der Wirt servierte Kaffee, und Adam bestellte Torte zum Nachtisch. Halb ungläubig, halb belustigt hob Helena die Brauen. Wieder einmal half er ihr, ihre Unsicherheit und Angst zu vergessen. „Jetzt verstehe ich, warum Sie mich ständig zu üppigen Mahlzeiten animieren.“ Seufzend glättete sie die Serviette, die auf ihrem Schoß lag. „Noch nie sah ich jemanden so viel essen wie Sie, Mr Mannion.“
„Welch ein nettes Kompliment! Ja, das ist mein Fluch ... ich esse für mein Leben gern. Und ich vertrage eine ganze Menge.“ „Ein Wunder, dass Sie nicht dick sind ...“ Verlegen errötete sie. Es schickte sich nicht, auf seine schlanke, athletische Gestalt anzuspielen, die tatsächlich nicht auf seinen unbändigen Appetit hinwies.
„Zum Kummer meines Vaters und meines Hauslehrers besaß ich schon immer eine geballte Energie. Wenn man so veranlagt ist und zu wenig isst, magert man ab.“
Belustigt hob sie die Brauen. „Also finden Sie, energische Menschen müssten sich vollstopfen?“
„Nun, ich halte gutes Essen für eine der wichtigsten Freuden auf dieser Welt, die Sie sich gönnen sollten, Helena.“
„Weil ich so mager bin?“
„So habe ich’s nicht gemeint“, erwiderte er zerknirscht. „Sie sind nicht direkt mager.“ Mit seinem prüfenden Blick trieb er ihr erneut das Blut in die Wangen. Würde sie eines Tages verbrennen, wenn er sie dauernd so eindringlich anschaute? „Aber Sie kommen mir viel zu ernst vor. Sind Sie niemals fröhlich, einfach nur aus Lust am Leben?“
Diese kühne Bemerkung durfte sie nicht widerspruchslos hinnehmen. „Also wirklich, Mr Mannion!“
„Und Ihr Klavierspiel?“, fragte Adam und schob den letzten Bissen seines Tortenstücks in den Mund. „Essen ist wie Musik. In beidem kann man schwelgen, im Geschmack ebenso wie im Klang, und dieser Reiz der Sinne führt uns Menschen auf eine höhere Ebene, in jene olympischen Höhen, wo die Götter wohnen - oder wo man den Musen der Ekstase begegnet.“ Natürlich scherzte er. Trotzdem wartete er gespannt ab, ob er Helena beeindrucken würde. Skeptisch runzelte sie die Stirn.
„Übertreiben Sie nicht ein bisschen, Sir?“
Statt zu antworten, zuckte er nur mit den Schultern und nippte an seinem Kaffee.
Helena rührte Sahne und Zucker in ihren Kaffee und dachte über Adams Worte nach. Nun lernte sie eine Seite seines Wesens kennen, mit der sie nicht gerechnet hatte. Beging sie einen Verrat an sich selbst, wenn ihr dieser Charakterzug gefiel?
Normalerweise lachte sie nur selten. Aber an diesem Tag hatte er sie immer wieder dazu gebracht. Niemals vergaß sie die dunkle Wolke, unter der sie lebte. Und sie hatte sich schon so oft gewünscht, wenigstens für eine halbe Stunde Ruhe vor der Vergangenheit zu finden. Das ist mir heute endlich gelungen, überlegte sie. In Mrs Stiles’ Salon, bei anregenden Gesprächen mit Adam Mannion ...
Konnte er ihr Leben in so kurzer Zeit verändert haben? Er war ganz anders als die Menschen, die sie kannte. An das kühle distanzierte Verhalten englischer Adliger gewöhnt, staunte sie über Adams lebhaftes Temperament.
Der aristokratischen Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden war und in der sie sich stets so selbstbewusst bewegt hatte, gehörte er nicht an. In allem, was er tat oder sagte, wurde sein mangelndes blaues Blut offensichtlich - in zielstrebigen Bewegungen, in seinem unbefangenen Lächeln, in der Art, wie sich beim Lachen Fältchen um seine Äugen bildeten. Wenn sie sprach, heuchelte er weder Gleichmut noch kaltes Desinteresse, sondern beugte sich eifrig vor, als hätte er nie zuvor so wichtige Äußerungen gehört. Sein ausdrucksvolles Gesicht verhehlte nicht, was er empfand. Und obwohl er nicht zur Aristokratie zählte, fand sie ihn keineswegs gewöhnlich in seiner vibrierenden Vitalität, die ihn von allen Männern ihres Bekanntenkreises unterschied.
Nachdem Adam die Rechnung beglichen hatte, standen sie auf. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür. Schweren Herzens vernahm Helena eine melodische Stimme mit
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