Die schöne Spionin
für England gegeben hatten.
Er hatte es kaum geschafft, eine Viertelstunde lang an Rens Bett zu stehen. Wie schaffte es Agatha, sich stundenlang mit einem Verwundeten nach dem anderen zu befassen? Angesichts der zerstörten Leben fröhlich zu wirken? Angesichts des Todes?
Und, was noch wichtiger war – warum tat sie es?
Er musste seine Schlussfolgerungen, was Agathas Beweggründe anging, ernsthaft überdenken.
Sie war James gegenüber offenkundig loyal. Aber sie war auch hier und schenkte den Soldaten Englands ihre Zeit.
Was er auf der Station gesehen hatte, waren nicht die Taten einer französischen Kollaborateurin. Die Frau, die sich weggedreht hatte, um ihre Tränen zu verbergen, unterstützte den Feind nicht mehr als er selbst.
Also, wer war sie wirklich? Die wilde Geliebte, die James ihm beschrieben hatte? Der perfekte Profi, den Simon erlebt hatte? Oder die sanftmütige Frau, die sich im Angesicht von Verletzung und Tod aufopferte?
Das Schreiben, das er heute Morgen entziffert hatte, sprach für ihre Unschuld, auch wenn es neue Fragen aufwarf.
Die letzte Seite hatte eine »liebe Mrs Bell« angewiesen, wie sie den Fragen eines »Lord Fistingham« entgehen konnte.
Sagen Sie ihm, dass ich mich in Kendal einer Kur unterziehe. Achten Sie darauf, nicht anzudeuten, dass ich Lancashire verlassen habe, oder er wird sofort wissen, dass ich in London bin. Ich bin sicher, bald Nachricht von James zu haben.
Lancashire. James war aus Lancashire, auch wenn er seit Jahren nicht mehr dort lebte. Wie es schien, reichte die Affäre weiter zurück, als Simon anfangs gedacht hatte.
Wer war Lord Fistingham? Ein weiterer Liebhaber? Jemand, der um ihre Zuneigung buhlte? Jemand, den sie sich für den Fall hielt, dass James nicht mehr auftauchte?
Nein, das konnte er nicht glauben. Ihre Liebe zu James war echt, darauf hätte er sein Leben gewettet. Das war kein geschäftliches Arrangement, zumindest nicht, was sie anging.
James hatte klargestellt, dass er keine wirklichen Gefühle für sie hegte. Hatte er dafür gesorgt, dass Agatha ihr Zuhause auf dem Land verließ, damit er sie in London bequem in seiner Nähe hatte? Um sie nach Belieben zu benutzen, ohne sich um den Schmerz zu scheren, den er ihr möglicherweise bescherte?
Das neuerliche Indiz für James’ schlechten Charakter machte Simon wütend. James hatte ihn gründlich zum Narren gehalten. Und Agatha vermutlich noch gründlicher.
Wenn sie nicht des Hochverrats schuldig war, war sie jedenfalls nicht die erste Frau, die treu ergeben dem falschen Mann folgte. Die eigentliche Frage lautete: Wofür würde sie sich entscheiden, wenn sie die Wahrheit erfuhr? Für den Geliebten oder ihr Land?
Er entfernte sich langsam und arrangierte Rens Entlassung aus dem Hospital. Im Fall Porter hatte sich jemand schwere Schuld aufgeladen.
Simon war sich ziemlich sicher zu wissen, wer.
James Cunnington rollte sich auf seinem übel riechenden Strohsack zur Seite und blinzelte die Morgensonne an, die durch die Spalten der Plankenwand vor seiner Nase drang. Zumindest glaubte er, es sei Morgen.
Es gelang ihm nicht oft, sich aus dem betäubenden Nebel zu befreien, der ihn umfing. Doch wenn er es schaffte, versuchte er so viele Einzelheiten seiner Umgebung wie möglich zu erkennen.
Er wusste, er war auf einem Schiff, einem Fischkutter vermutlich, aus dem Geruch und der Krümmung der Bordwand zu schließen. Kein neuer Kutter, denn er knarrte bei jeder Welle, und die Planken hatten sich verzogen, sogar die seeseitigen.
Es gab einen Spalt, der breit genug war, das Auge dagegenzupressen und ein bisschen was von der Welt draußen zu sehen. Es gab nicht viel zu sehen, tröstlich war es trotzdem. Wenigstens war er über der Wasserlinie.
Er wusste, dass sie in einem Hafen lagen, denn manchmal hörte er in der Ferne Hufe klappern. Aber der Hafen wurde kaum genutzt, denn er hatte durch sein Guckloch zur See nie ein anderes Schiff aufs offene Meer hinausfahren sehen. Nein, das hier war keines von den dreckigen Hafenbecken der Themse.
Er wusste, dass die Besatzung aus Franzosen bestand, denn er hörte sie einander anschreien oder ihn verfluchen, wenn sie ihm Essen brachten oder ihn schlugen. Er hatte eine erstaunliche Anzahl neuer Flüche gelernt, aber er zweifelte, dass er je die Gelegenheit bekam, sie zu verwenden.
Er wusste, ein Mann konnte mit Wasser und Brot lange überleben; auch wenn das Brot alt und völlig verschimmelt war und das Wasser bitter nach totem Fisch und Rost schmeckte.
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