Die schöne Spionin
bedeckt, sah Ren Porter nicht im Geringsten wie er selbst aus.
Simon studierte das Diagramm am Fußende des Betts. Es gab nicht viel Hoffnung für den bewusstlosen Ren Porter, so viel war klar.
Man hatte Ren vor einer Taverne am Stadtrand von London aufgefunden, in der Nähe der Docks. Der örtliche Arzt hatte ihn an den Konvoi aus Verwundeten von einem der Schiffe überstellt, weil er wohl glaubte, dass der junge Mann mehr Hilfe brauchte, als er ihm geben konnte.
Simon hegte keinen Zweifel, dass die Kleider, die Ren getragen hatte, etwas mit seinem Auftrag zu tun hatten. In der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Männer zu erregen, die für den französischen Geheimdienst Spitzel rekrutierten, hatte Porter den desillusionierten, vom Glück verlassenen jungen Gentleman gespielt.
Zumindest ging Simon davon aus. Auf der anderen Seite des Kanals war dem jedenfalls so.
Irgendwie – und Simon hatte das üble Gefühl, er wisse wie -war Rens Tarnung aufgeflogen, und die Vergeltung war postwendend und mit beinahe tödlichem Ausgang erfolgt.
Die Kurve verschwamm ein wenig. Simon schloss die Augen. So einfach ließ er Ren Porter nicht gehen. Unter Simons Obhut wurde der Mann auf jeden Fall besser versorgt als auf der überfüllten Krankenstation.
Ren hatte keine nennenswerte Verwandtschaft, nur eine entfernte Cousine auf dem Land. Im Club hieß es, dass er mit einem Mädchen aus London verlobt sei, einer kleinen Blondine mit mehr Figur als Verstand.
Simon bezweifelte, dass die Verlobung – falls sie wirklich offiziell war – lange halten würde.
Falls
Ren überlebte, ließ sich nicht sagen, in welcher geistigen und körperlichen Verfassung.
Die Schwestern und Ärzte taten ihr Bestes, doch Simon konnte sehen, wie überfordert sie waren. Überall im Haus bewegten sich Männer und Frauen in Straßenkleidung durch die Reihen der Verwundeten. Freiwillige, ohne Ausbildung oder Studium, boten an Hilfe an, was sie konnten.
Simon hängte das Diagramm zurück und legte Ren zum Versprechen die Hand auf die Schulter. »Ich komme wieder.«
Die Verwaltung war unten, und Simon nahm sich unterwegs die Zeit, sich unter den Verwundeten nach vertrauten Gesichtern umzusehen. Als er unter der Tür eines großen Raumes mit Gewölbe innehielt, entdeckte er Agatha.
Sie saß bei einem jungen Mann auf der Bettkante, lachte und spielte Karten. Sie hatten jede Menge Platz auf dem Bett, denn der Bursche hatte keine Beine mehr.
»Hab ich Sie wieder erwischt, Seamus«, hörte er sie sagen.
»Sie haben eben eine gute Fee, Mrs A.« Der schwarzhaarige junge Mann lächelte erschöpft.
Simon stellte fest, dass der Bursche fiebrig aussah, die grünliche Blässe kontrastierte mit geröteten Wangen. Vermutlich setzte die Sepsis ein. Der arme Junge war verloren, nur wenige überlebten eine so radikale Amputation und die unausweichliche Infektion.
»Nun, die Feen und ich haben Ihnen heute schon genug Geld abgenommen, Seamus.« Sie steckte die Karten ein.
»Seht ihr das? Sie ist genau wie eine Nixe und gibt einem Burschen keine Chance, dass er’s zurückgewinnt«, sagte er.
»Da müssen Sie noch einen Tag warten.«
Agatha beugte sich vor und legte Seamus die Hand auf die Stirn. »Sie haben wieder Fieber. Wenn Sie sich jetzt nicht hinlegen und ausruhen, sage ich es der Schwester.«
Er lachte matt und hob beide Hände. »Nein, bloß das nicht! Ich ruhe mich aus, ich verspreche es.«
Unbeholfen und aus dem Gleichgewicht, weil ihm die Hälfte seines Körpers fehlte, benötigte er zum Hinlegen Agathas Hilfe. Immer noch lächelnd lag er endlich in den Kissen und machte die Augen zu.
Simon sah das neckische Lächeln von Agathas Lippen weichen. Sie zwinkerte hektisch, zog dem jungen Mann die Decke hoch und erhob sich leise von der Bettkante.
Als sie sich wegdrehte, sah Simon, wie sie sich die Augen wischte und tief Luft holte.
Dann lächelte sie strahlend und ging zum nächsten Bett, wo schon der nächste Soldat ungeduldig auf sie wartete.
Simon trat zurück und lehnte sich im Flur an die Wand. Das hatte er wirklich nicht erwartet. Er hatte gedacht, dass Agatha einfach die Stationen durchsah. Er hätte nie gedacht, sie auf diese Weise arbeiten zu sehen.
Es schien eine simple Sache zu sein, mit verwundeten Männern zu lachen, zu scherzen und Karten zu spielen. Man hätte denken können, jeder könne es. Aber nicht jeder tat es. Er selbst hatte nie daran gedacht, herzukommen und Zeit mit den zerschmetterten jungen Männern zu verbringen, die so viel
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