Die schoene Tote im alten Schlachthof
er bereits versucht, schlichtend einzugreifen,
mehrfach die Kollegen von der Schutzpolizei gerufen. Aber waren die Beamten
endlich da, dann herrschte bei seinen Nachbarn plötzlich wieder traute
Einvernehmlichkeit. Weder Mutter noch Tochter bezogen Position gegen den Vater.
Die blauen Flecken waren dann angeblich beim Putzen entstanden oder beim
Spielen mit den Nachbarskindern. Selbst dem Jugendamt waren die Hände gebunden.
Und so hatte Ferschweiler resigniert.
Als er auf seiner Etage aus dem Aufzug trat, sah er, dass bei Rachs
die Tür offen stand. Kurz entschlossen klopfte er und trat ohne Aufforderung
ein.
Absolut aufgeräumt und sauber präsentierte sich die Wohnung der
Rachs. Hätte man anhand von Kevin Rachs Erscheinungsbild auf dessen Behausung
geschlossen, man hätte meilenweit danebengelegen.
Im Wohnzimmer saß Rachs Frau Kerstin. Sie weinte, und ihr Make-up
war verlaufen. Es hatte auf ihrem Glitzertop bereits merkwürdig abstrakte
Formen hinterlassen – fast schon Kunst, dachte Ferschweiler, doch verwarf
er diesen Gedanken sofort wieder.
»Kerstin, Mensch, was ist denn los?«, fragte er seine völlig
aufgelöste Nachbarin.
»Ach Rudi, komm, hör auf. Du weißt doch, was los ist. Zieh Leine.«
»Aber ich will dir helfen, Kerstin. Soll ich nicht noch einmal das
Jugendamt rufen? Es geht doch so nicht weiter.«
»Rudi, lass bitte. Es bringt doch nichts. Wenn der Kevin zurückkommt
und dich hier findet, dann passiert ein Unglück. Also, bitte geh.«
Flehentlich schaute sie ihn an. Ferschweiler verstand und verließ
zögerlich die Wohnung. Wie immer in solchen Situationen fühlte er sich macht-
und hilflos.
Als er seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, war ihm
übel. Eine solche Verrohung; er konnte es einfach nicht begreifen.
Ferschweiler hatte kaum zwei Stunden geschlafen, da machte
ihn Lärm von draußen wach. Vor dem Haus hatte ein weiterer Nachbar mal wieder
seinen mit allerlei Metallschrott beladenen Pritschenwagen abgestellt. Aus dem
Führerhaus drang ohrenbetäubende Musik, und Ferschweiler hörte den Fahrer
lauthals mitsingen: »Zieh dich aus, kleine Maus, mach dich nackig, komm zu Papa
her ins große Himmelbett.«
An Schlaf war für ihn nicht mehr zu denken. Ferschweiler entschied
sich, einen langen Spaziergang zu machen.
Als er das Hochhaus verlassen hatte, fragte er sich, wohin er eigentlich
gehen sollte. Er beschloss nach kurzem Überlegen, die Bahngleise zu überqueren
und am Fluss entlangzugehen. Auf der Dauner Straße bog er nach links in die
Hornstraße ab und ging am Einkaufszentrum vorbei, das um diese Zeit wie
ausgestorben dalag. Nur zwei Obdachlose lagen schlafend unter einer Decke aus
Pappverpackungen im Einkaufswagenhäuschen des Discounters und schnarchten zum
Gotterbarmen, mehrere geleerte Anderthalbliterflaschen Rotwein neben sich
liegend.
Kurz hinter der Do-it-yourself-Autowaschanlage überquerte
Ferschweiler den Bahnübergang. Wie immer bewunderte er das schmiedeeiserne Tor
an der Einfahrt zum Hof der Weingroßhandlung und ging parallel der Gleise in
Richtung des »Standhaften Legionärs«.
Als er an der Kunstakademie vorbeikam, bemerkte er, dass auf dem Parkplatz
ein dunkler Geländewagen stand. Von der Straße aus war er durch den Metallzaun,
der das Gelände umgab, gut zu sehen. War Kafka etwa jetzt gerade in der
Akademie?
Langsam ging Ferschweiler weiter bis zum Tor des ehemaligen Schlachthofs,
das wie immer offen stand. Nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, betrat
er das Gelände und ging in Richtung Parkplatz. Tatsächlich, es schien sich um
Kafkas Wagen zu handeln. Ein schwarzer Porsche Cayenne mit chrombeschlagenem
Gestänge im Frontbereich, und auch das Luxemburger Nummernschild stimmte mit
den Angaben überein, die die junge Mutter de Boer und Ferschweiler gegenüber
gemacht hatte. Blieb nur die Frage, wo genau Kafka gerade war. Ferschweiler
beschloss, den zentralen Bau, bestehend aus der Kunsthalle und den
angegliederten Ateliers, einmal zu umrunden.
Er brauchte nicht lange zu suchen. Bereits als er am Ende des
Parkplatzes um die Ecke des Bildhauerateliers bog, sah er, dass im Turmzimmer
Licht brannte. Deutlich konnte er Schatten erkennen, deren Bewegungen auf eine
heftig geführte Diskussion hindeuteten.
Ferschweiler war klar, dass er nicht näher an das Geschehen
herankommen konnte. Zwar hätte er Helena Claus anrufen können, die ihm aus für
ihn schleierhaften Gründen ihre Handynummer auf ihrer Visitenkarte zugesteckt
hatte. Aber ob
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