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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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jahrelang beschwerlich in einem Labor abplagst, um in einem Räderwerk oder Reagenzglas ein Jota relativer Wahrheit zu entdecken…«
    »Hast du es denn versucht?«
    Maury hielt inne, und als er endlich antwortete, schwang in seiner Antwort Müdigkeit mit, ein bitterer Unterton, der in den drei Zuhörern einen Augenblick lang nachklang, bevor er auf und davon schwebte wie eine Seifenblase, die zum Mond aufsteigt.
    »Ich nicht«, sagte er leise. »Ich bin müde geboren – allerdings ausgestattet mit Mutterschläue, einer Gabe von Frauen wie Gloria. Dem habe ich trotz allen Redens und Zuhörens, trotz aller vergeblichen Warterei auf das ewig gültige Prinzip, das hinter jedem Argument und jeder Spekulation zu liegen scheint, nicht ein Jota hinzugefügt.«
    [336] In der Ferne machte sich ein tiefer Ton bemerkbar, der bereits seit einer Weile zu hören gewesen war, ein klagendes Muhen wie das einer riesigen Kuh, dazu der perlgroße Fleck eines einen Kilometer entfernten Scheinwerfers. Diesmal war es ein dampfgetriebener Zug, der fauchend angerattert kam, und als er unter ungeheuren Klagen vorüberbrauste, schleuderte er einen Funken- und Aschenregen über den Bahnsteig.
    »Nicht ein Jota!« Wieder fielen Maurys Worte wie aus großer Höhe auf sie herab. »Was ist doch der Geist für ein schwächliches Ding, mit seinen kurzen Schritten, seinem Schwanken, seinem Hin und Her, seinen verhängnisvollen Rückzugsgefechten! Der Geist ist ein bloßes Werkzeug der Umstände. Es gibt Leute, die behaupten, das Universum müsse von einem Geist erschaffen worden sein – ach woher denn! Nicht einmal die Dampflok ist vom Geist erschaffen worden! Die Umstände haben die Dampflok erschaffen. Der Geist ist wenig mehr als ein kurzer Zollstock, mit dem wir die unendlichen Errungenschaften der Umstände messen.
    Ich könnte euch die Philosophie der Stunde anführen – aber ich könnte mir gut denken, dass es in fünfzig Jahren vielleicht zu einer völligen Umkehrung der Entsagung kommt, die die Intellektuellen von heute so in Anspruch nimmt, zum Triumph Christi über Anatole France…« Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Aber alles, was ich weiß – welch ungeheure Bedeutung ich für mich selbst habe und wie notwendig es ist, diese Bedeutung anzuerkennen –, all das weiß die kluge, liebliche Gloria schon seit ihrer Geburt, und auch, wie quälend vergeblich alle Versuche sind, sonst noch irgendetwas zu wissen.
    [337] Nun gut, ich habe angefangen, euch etwas von meiner Bildung zu berichten, nicht wahr? Aber seht ihr, gelernt habe ich nichts, selbst über mich nur sehr wenig. Und selbst wenn, würde ich mit versiegelten Lippen und zugeschraubtem Füllfederhalter sterben – wie es die weisesten Männer seit – ach, seit dem Fehlschlag einer bestimmten Angelegenheit – getan haben, übrigens einer merkwürdigen Angelegenheit. Es betrifft einige Skeptiker, die glaubten, weitsichtig zu sein, so wie ihr und ich. Bevor ihr mir alle einschlaft, will ich euch anstelle eines Abendgebets davon erzählen.
    Einst fanden alle Männer von Geist und Genius in der Welt in einem Glauben zusammen – das heißt, in keinem. Doch der Gedanke, dass ihnen nur wenige Jahre nach ihrem Tode viele Kulte, Glaubenssysteme und Prophezeiungen zugeschrieben würden, die sie weder bedacht noch beabsichtigt hatten, dieser Gedanke rieb sie auf.
    Da sprachen sie zueinander: ›Wir wollen uns zusammentun und ein großes Buch abfassen, das ewig hält und der Leichtgläubigkeit der Menschen spottet. Unsere erotischeren Dichter wollen wir dazu überreden, über die leiblichen Genüsse zu schreiben, und einige unserer abgefeimten Journalisten dazu bringen, Geschichten über berühmte Amouren beizusteuern. Wir werden die lächerlichsten Ammenmärchen aufnehmen, die heutzutage in Umlauf sind. Wir werden den schärfsten lebenden Satiriker dazu bestimmen, aus allen von der Menschheit angebeteten Göttern einen Gott zu schaffen, einen Gott, herrlicher als jeder einzelne und doch so schwach und menschlich, dass er der ganzen Welt zum Gespött wird – und diesem werden wir alle möglichen Späße, Eitelkeiten und Wutanfälle zuschreiben, [338] denen er sich angeblich zu seiner eigenen Zerstreuung hingibt, auf dass die Leute unser Buch lesen und darüber nachdenken und es keinen Unsinn mehr in der Welt gibt.
    Schließlich wollen wir darauf achten, dass das Buch alle stilistischen Vorzüge besitzt, damit es für immer Bestand haben möge als Zeuge unserer tiefen Skepsis und

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