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Die Schönen und Verdammten

Die Schönen und Verdammten

Titel: Die Schönen und Verdammten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
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äußerlichen Gelassenheit beinahe orientalischen Temperaments wärmte Anthonys unstete Seele und gewährte ihm einen inneren Frieden, vergleichbar nur mit jenem inneren Frieden, den eine dumme Frau gewährt. Man musste alles verstehen – oder man musste alles als selbstverständlich hinnehmen. Maury füllte das Zimmer aus, [65] tigergleich, gottgleich. Die Winde draußen waren abgeflaut; die messingenen Kerzenständer auf dem Kaminsims leuchteten wie Wachskerzen vor einem Altar.
    »Was hält dich heute hier?« Anthony streckte sich auf dem weichen Sofa aus und stützte sich mit dem Ellbogen auf die Kissen.
    »Bin erst seit einer Stunde hier. Fünfuhrtee mit Tanz – bin so lange geblieben, dass ich meinen Zug nach Philadelphia verpasst habe.«
    »Seltsam, dass du so lange geblieben bist«, äußerte Anthony neugierig.
    »In der Tat. Was hast du getrieben?«
    »Geraldine. Die kleine Platzanweiserin im Keith’s. Ich habe dir von ihr erzählt.«
    »Oh!«
    »Hat mir um drei einen Besuch abgestattet und ist bis fünf geblieben. Seltsames kleines Ding – geht mir auf die Nerven. Sie ist so entsetzlich dumm.«
    Maury schwieg.
    »So sonderbar es scheinen mag«, fuhr Anthony fort, »meiner Meinung, ja meiner Kenntnis nach ist Geraldine ein Ausbund an Tugend.«
    Er kannte sie seit einem Monat, ein Mädchen mit undefinierbaren nomadischen Gewohnheiten. Jemand hatte sie nebenhin an Anthony weitergereicht, der sie amüsant fand und dem die keuschen Feenküsse, die sie ihm am dritten Abend ihrer Bekanntschaft auf einer Droschkenfahrt durch den Central Park gegeben hatte, recht gut behagten. Ihre Familienverhältnisse waren undurchsichtig und zwielichtig – eine Tante und ein Onkel, die im Labyrinth der [66] Hunderter ein Apartment mit ihr teilten. Ihre Gesellschaft war ihm angenehm, sie war vertraut, nicht zu intim und erholsam. Weiter wollte er das Experiment nicht vorantreiben – nicht aus moralischen Gewissensbissen, sondern aus Furcht, das, was er als die zunehmende Heiterkeit seines Lebens empfand, durch irgendwelche Verwicklungen beeinträchtigen zu lassen.
    »Sie hat zwei Ticks«, vertraute er Maury an, »zum einen lässt sie sich immer die Haare in die Augen fallen, nur um sie wieder wegzupusten, zum anderen ruft sie immer: ›Bist du verrückt?‹, wenn jemand eine Bemerkung macht, die über ihren Verstand geht. Es fasziniert mich. Ich sitze stundenlang da und lasse mich von den Symptomen einer Manie, die sie in meiner Einbildungskraft entdeckt haben will, vollkommen gefangennehmen.«
    Maury regte sich in seinem Sessel und sprach.
    »Bemerkenswert, dass ein Mensch so wenig begreift und doch in einer so komplexen Zivilisation lebt. Eine Frau wie sie fasst doch tatsächlich das gesamte Universum völlig unreflektiert auf. Das alles ist ihr völlig fremd, vom Einfluss Rousseaus bis zu den Auswirkungen des Zolltarifs auf ihr Abendessen. Aus der Steinzeit ist sie verschleppt und einfach hier abgesetzt worden: mit der Ausrüstung eines Bogenschützen, der zu einem Pistolenduell antritt. Man könnte die gesamte Kruste der Geschichte wegfegen, und sie würde nicht einmal den Unterschied merken.«
    »Ich wünschte, unser Richard würde über sie schreiben.«
    »Anthony, du glaubst doch nicht etwa, dass es sich lohnt, über sie zu schreiben?«
    »Genauso wie über jeden anderen auch«, antwortete er [67] gähnend. »Weißt du, erst heute habe ich gedacht, dass ich großes Vertrauen in Dick habe. Solange er sich an Menschen hält statt an Ideen, solange sich seine Inspiration aus dem Leben speist statt aus der Kunst, und eine normale Entwicklung vorausgesetzt, glaube ich, dass er noch einmal groß herauskommt.«
    »Danach zu urteilen, wie sein schwarzes Notizbuch aussieht, hält er sich ans Leben.«
    Anthony stützte sich auf dem Ellbogen auf und entgegnete eifrig: »Er versucht, sich ans Leben zu halten. Das tut jeder Autor mit Ausnahme der wirklich schlechten, aber es leben ja die meisten letztlich von vorgekauter Nahrung. Die Handlung oder der Charakter mögen ja dem Leben entnommen sein, doch deutet der Schriftsteller sie meist im Lichte des letzten Buchs, das er gelesen hat. Angenommen, er begegnet einem Schiffskapitän, den er für einen originellen Charakter hält. In Wahrheit nimmt er die Ähnlichkeit zwischen diesem Schiffskapitän wahr und dem letzten Schiffskapitän, den Dana gestaltet hat, oder wer immer Schiffskapitäne gestaltet. Daher weiß er, wie er diesen Schiffskapitän zu Papier zu bringen hat. Natürlich

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