Die schönste Zeit des Lebens
Munitionslager. Noch Jahre nach Kriegsende lagen in den Bunkern Kisten mit Gewehr- und Flakmunition und Säckchen mit Phosphorstangen und Blättchenpulver herum. Anfang der Fünfzigerjahre wurden die Bunker dann gesprengt und die Baracken abgerissen. Seitdem hat man das Gebiet sich selbst überlassen. Die Wurzeln der Föhren haben die Straßendecken gesprengt, der Asphalt ist aufgeplatzt, Gras wuchert in den Rissen, Ginster und schlanke Birken. Auf den Bunkerhügeln hier und da Lupinen und Klatschmohn, die Eingänge überwuchert von Dornengestrüpp. Kaninchen gibt es hier in großer Zahl und Füchse, auch einen Dachsbau unter den Stahlbetonresten eines Bunkers. Eine verwundete Landschaft, immer noch, geschunden und schutzlos unter dem offenen Himmel.
Wenn es das Wetter erlaubt und Egon Markmann nicht im Haus oder im Garten zu tun hat, streift er manchmal nachmittags durch die Lohheide, folgt mit schwerem, ungleichmäßigem Tritt den schmalen Pfaden, die sich durch das hohe Gras schlängeln, liegt an einer besonnten Böschung im noch winterfahlen Gras und schaut in den Himmel. Das zarte Grün der Birken, ein schüchternes, unstetes Grün, die windzerzausten Föhren, dazwischen Flecken verwaschenen Blaus – als wäre die Natur jederzeit bereit, diesen Versuch, sich zu behaupten, wieder zurückzunehmen. Nirgends fühlt sich Egon so bei sich wie hier. Vielleicht, weil er im Gesicht dieser kargen Landschaft sich selbst erkennt.
Dieser Unfall vor drei Jahren, der sein Leben veränderte. Immer noch wallt in ihm die Wut auf, wenn er daran denkt, wie sie ihm das mit der Frühverrentung eingeredet haben. Der Betriebsarzt war der Erste, der von Schlaganfall sprach. Sein zu hoher Blutdruck, das Risiko eines erneuten Schlaganfalls, die Arbeit im Lager könne er unter diesen Umständen nicht mehr verrichten. Das sei nicht verantwortbar. Der Hausarzt war nicht bereit, Egon für arbeitsunfähig zu erklären, und in dem Gutachten, das die Berufsgenossenschaft hatte erstellen lassen, hieß es, Egons verminderte Arbeitsfähigkeit könne nicht auf den Unfall selbst, sondern allenfalls auf den Schlaganfall zurückgeführt werden. Auch die partielle Lähmung im rechten Bein. Die vor allem, daran hakten sie sich fest. Also blieb nur die Frühverrentung mit gekürzten Bezügen.
Das jedenfalls behauptete sein Freund Werner, der im Betriebsrat saß. Er riet Egon dringend, das Angebot der Betriebsleitung anzunehmen. Das Unternehmen sei ihm so weit entgegengekommen, wie es eben gehe, sagte er. Er habe alles versucht. Mehr sei nach der Rechtslage einfach nicht drin. Aber in Wirklichkeit, da ist Egon sich sicher, wollten sie ihn nur loswerden, auch der Betriebsrat, weil damals wieder einmal von Entlassungen die Rede war und sie froh waren über jeden, der vorzeitig ging.
Das Flirren der Birkenblätter im Wind, als hätten sie etwas zu erzählen. Er war sich sicher, ist es bis heute, dass es an dem Rohrstück lag, das irgendein Idiot auf den Boden hatte fallen lassen. Er war darauf getreten und hatte den Halt verloren. Um nicht zu stürzen, hatte er sich an die Steuerung der Laufkatze geklammert. Dabei muss er den falschen Knopf gedrückt haben. Jedenfalls kam die ganze Ladung von der Decke runter und riss das Regal mit den schweren Flanschrohren um. Viel hätte nicht gefehlt und es hätte den Kollegen auf dem Gabelstapler erwischt.
Hinterher war das Rohrstück dann nicht zu finden. Vielleicht haben sie auch gar nicht danach gesucht. Oder sie haben es verschwinden lassen, weil es sonst ein Arbeitsunfall gewesen wäre. Als die anderen herbeigelaufen kamen, saß er, ein wenig benommen, auf dem Boden an eine Kiste gelehnt. Werner war es, der darauf bestand, die Ambulanz zu rufen, obwohl Egon beteuerte, es fehle ihm nichts. Aber als er aufstehen wollte, da sackte ihm das rechte Bein weg, und als die Sanitäter kamen, trugen sie ihn trotz seines Protestes auf der Tragbahre zum Krankenwagen. Im Krankenhaus fragte ihn der Arzt, was passiert sei, und er erzählte, er sei auf einem Rohrstück ausgerutscht und hingefallen. Dabei habe er sich das Bein verdreht. Der Arzt untersuchte ihn und ließ ihn wieder gehen. Das mit dem Bein legt sich wieder, sagte er.
Egon Markmann sitzt an den Stamm einer Föhre gelehnt, mit dem Taschenmesser schnitzt er an einem Stock herum, den er im Vorübergehen aufgelesen hat. Geradezu verbissen schnitzt er Kerben in das trockene Holz, ein ganzes Muster aus Dreiecken, Halbmonden, Spiralen und Schlangenlinien. Als er fertig
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