Die schönste Zeit des Lebens
Nacht?
Ja, sagt sie. Magst du sie?
Ich lese sie einer alten Dame vor, sagt er. Sie ist fast blind.
Sie nickt, als wollte sie sagen, dass sie genau das von ihm erwartet habe: dass er einer alten, fast blinden Dame Geschichten vorliest. Diese Geschichten. Was soll er noch sagen? Er schaut sich hilfesuchend um, blickt zur Theke hinüber, wo Tom und Andy sich jetzt nach ihm umdrehen und ihm winken. Sie rufen ihm etwas zu, was er nicht versteht, und sie steht immer noch da und schaut ihn an, als erwarte sie, dass er noch etwas sagt.
Ich muss mich um meine Kumpel kümmern, sagt er.
Es klingt wie eine Entschuldigung, aber im Grunde ist er froh, einen Vorwand zu haben, das Gespräch abzubrechen.
Ja, sagt sie.
Als Robert wieder bei seinen Freunden an der Theke steht, sagt Andy: Warum hast du sie nicht mitgebracht? Sah doch ganz nett aus, die Kleine.
Ich kenne sie doch gar nicht, sagt Robert.
Und worüber habt ihr gesprochen, wenn du sie gar nicht kennst?, fragt Tom.
Sie hat mich was gefragt.
Was hat sie dich gefragt?
Wie ich heiße, sagt Robert.
Und? Hast du es ihr verraten?
Andy und Tom biegen sich vor Lachen. Robert schaut sich erschrocken um. Wenn sie die beiden so lachen sieht, denkt sie bestimmt, dass sie sich über sie lustig machen. Aber zum Glück ist sie nirgends mehr zu sehen, ist offenbar schon gegangen.
Jetzt brauch ich noch ein Bier, sagt Andy, als er sich endlich wieder gefangen hat. Und weil Andy noch ein Bier braucht, können sie noch nicht gehen, obwohl es schon nach ein Uhr ist und Robert in sechs Stunden wieder aufstehen muss.
Nur ein Bier noch, sagt Andy. Ich fahr dich auch nach Haus.
Das letzte, sagt Momo, als er die Gläser über die Theke schiebt. Ich mach Feierabend.
Als sie schließlich aufbrechen und durch die leere Fußgängerzone zur Sparkasse gehen, wo auf dem Hinterhof Andys Auto steht, ist es schon fast halb drei. Im Auto legt Andy das Reggae-Band ein, und als die Stelle kommt, wo Bob Marley singt: I want to disturb my neighbour, ’cause I’m feeling so right; I want to turn up my disco, blow them to full watts tonight, da dreht er das Gerät auf volle Lautstärke, und sie singen alle drei mit, während sie durch die schlafende Stadt fahren.
Die Straßen sind vollkommen leer um diese Zeit. Sie haben die Fenster heruntergekurbelt, der Fahrtwind kühlt die erhitzten Gesichter: I want to disturb my neighbour, ’cause I’m feeling so right . Der Rhythmus der Musik trägt sie durch die Nacht. Sie sitzen im Innern einer Raumkapsel, um sie herum endlose Leere, das Schwarz des Weltraums mit den Lichtpunkten darin, die jeder für sich eine noch unentdeckte Welt bedeuten.
Plötzlich an einer Kreuzung ein Fahrrad, wie aus dem Nichts ist es da. Andy bremst, reißt das Steuer herum, die Reifen quietschen, ein schepperndes Geräusch, kaum zu hören bei der lauten Musik. Sie halten, Andy schaltet die Musik aus, zögernd steigen sie aus. In der plötzlichen Stille stehen sie einen Augenblick wie erstarrt. Zwanzig Meter hinter ihnen unter der Straßenlaterne liegt das Fahrrad, daneben eine Frau im wattierten Anorak, auf dem Pflaster verstreut Zeitungen. Einen Augenblick sind sie gelähmt vor Schreck. Da bewegt sich die Frau, setzt sich auf, schaut sich verwundert um.
Bloß weg hier, sagt Andy. Los, steigt ein! Wenn die die Polizei holt, bin ich dran.
Erst als sie schon wieder im Auto sitzen und fahren, schweigend und ohne Musik, kommt Robert zur Besinnung.
Wir können die Frau doch nicht einfach dort liegen lassen, sagt er.
Aber Andy am Steuer denkt gar nicht daran, anzuhalten und umzukehren. Hast doch gesehen, dass die okay ist, sagt er. Meinst du, ich will meinen Führerschein verlieren?
Robert hat schon den Schlüssel in der Hand, um die Haustür aufzuschließen, da packt ihn auf einmal die Angst. Die Frau mit dem Fahrrad! Was, wenn Andy sich irrt, wenn sie doch verletzt ist? Er steht eine Weile unschlüssig da, dann macht er kehrt, geht schnellen Schritts den Weg zurück, immer schneller geht er, die Bredowstraße entlang, an der alten Brauerei vorbei, dann rechts ab auf den Weidendamm. Schon von Weitem sieht er das Blaulicht an der Kreuzung. Er bleibt stehen, er ist außer Atem, kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Als er langsam im Schatten der Bäume näher kommt, erkennt er den Krankenwagen. Er hört Stimmen, sieht, wie jemand die Flügeltüren am Heck zuschlägt und der Wagen Richtung Krankenhaus davonfährt.
13
DIE LOHHEIDE . Früher war hier einmal ein großes
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