Die schönsten Dinge
früher als Kind. »Ich brauche nur noch etwas Zeit, dann gebe ich eine Vorstellung, die ihr nicht so schnell vergessen werdet. Dein alter Herr hat noch einiges zu bieten.«
Ich setze schon zu einem Vortrag darüber an, dass die Regeln auch für ihn gelten, aber ich bremse mich. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass seine Augen in einer Flüssigkeit schwimmen, die dicker ist als Tränen, und dass sein Unterlid angeschwollen ist. Er hat Triefaugen. Altmänneraugen.
Heute Abend findet ein auÃerordentliches Familientreffen statt. Ich werde meine überarbeiteten Pläne für das höhere Angebot der Metcalf-Stiftung vorstellen. Es ist noch nicht zu spät, um auszusteigen. Der Abend wird lang, ich sollte mich ausruhen. Wenn wir beschlieÃen weiterzumachen, bleibt mir eine Woche lang kaum Zeit zum Atemholen. Ich bin zu aufgekratzt für einen Spaziergang und zu nervös, um ins Schwimmbad zu fahren. In der Bibliothek war ich schon, der Boden meines Zimmers ist mit jedem Buch über Evolutionsbiologie und Camping übersät, das ich ausleihen konnte. Ich versuche zu lesen, aber solange ich nicht weiÃ, ob alle für meinen Plan stimmen, kann ich mich nicht konzentrieren. Immer wieder laufe ich auf und ab. Ich schüttle meine Kopfkissen auf und wische mit einem Taschentuch den Staub vom Fenstersims. Ich sitze hier in meinem Zimmer und hecke Pläne aus.
Mein ganzes Leben habe ich in diesem Zimmer verbracht. Es ist immer noch blassrosa gestrichen und oben von einer Glockenblumentapete gesäumt. Fast alles haben wir bei Timothys Vater gekauft â was bei Möbeln, Kleidung und anderen einfachen Sachen gut funktioniert hat. Bei elektronischen Geräten weniger: In einem der Apfelschuppen sammeln sich seit dreiÃig Jahren kaputte Toaster, Laptops und Stereoanlagen an, die wir wegen der verfolgbaren Seriennummern nicht zur Reparatur bringen können.
Mein Computer, Drucker und Scanner stehen hier und in der Ecke ein Schredder. Ein Papierkorb fehlt: Sobald man etwas schreddert, bringt man es, auch wenn es umständlich oder das Wetter schlecht ist, zum Komposthaufen und harkt es unter die Gemüseschalen und das faule Obst. Der Kleiderschrank ist ein billiges Modell mit Furnier und Resten von Klebestreifen, mit denen ich als Teenie Poster von Popstars angeklebt habe. Darin hängen Businesskostüme für Bankerinnen, Pelze für Millionärinnen und lange, lässige Röcke, wenn ich mich als Hippiemädchen ausgebe, das ein unschätzbares Küstengrundstück besitzt, vor lauter Weltfremdheit nicht weiÃ, was es damit anfangen soll, aber gerade einen reichen »Freund« braucht, der jemanden vom Bauamt â meist gespielt von Beau â schmieren soll. In der Rolle ist Beau groÃartig. Das Bett ist ein Einzelbett für ein junges Mädchen, amerikanische Eiche mit abgenutzten Stellen am Ãbergang zum Kopfteil. Die Kommode aus weiÃem Altholz bot früher einmal ein trauriges Bild und sieht jetzt erbärmlich aus. Der antike Nachttisch im Queen-Anne-Stil hat längst allen Glanz verloren. Die goldgelben Vorhänge beiÃen sich mit dem petrolfarbenen Teppich. Ein echter Kristalllüster funkelt über einem falschen Rohrstuhl, auf dessen Nesselkissen sich eine Bande Teddys aus meiner Kindheit tummelt.
Dieses Haus ist so alt. Alles darin ist alt. Die Möbel sind abgenutzt und brechen auseinander, die Vorhänge verschleiÃen allmählich, die Tapeten lösen sich, und die Teppiche bestehen aus einer Ansammlung geheimnisvoller Flecken. An Hausrat hat mein Vater immer nur ein zeitlich begrenztes Interesse. Manchmal hängt ein paar Monate irgendwo ein Gemälde, in das er vernarrt ist, und dann verschwindet es plötzlich. Das alte Ding? Hat mich gelangweilt, meine Liebe. Einmal hatten wir ein Essgeschirr, das, na ja, nicht in unserer Familie, aber in einer anderen über Generationen weitergereicht wurde. Handgemalte japanische Damen auf Brücken mit Fächern in der Hand, das Porzellan so dünn, dass das Licht durchschien. Ruby war begeistert. Sie trank so gern ihren Tee aus einer der zarten Tassen und legte ihren Keks auf die Untertasse. Sie hat das Geschirr geliebt, trotzdem war es von einem Tag auf den anderen verschwunden. Ich kann es nicht mehr sehen , hat mein Vater gesagt. Entweder das Geschirr oder ich.
Ich lebe schon so lange in diesem Haus, dass mir nicht aufgefallen ist, wie es um mich herum
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