Die schönsten Dinge
Ernst.«
»Ja, Dr. Canfield, Maâam. Kein Wort mehr über Ziegen oder Brunnen oder auch Geparden.« Er tut so, als würde er sich den Mund zuziehen wie einen ReiÃverschluss.
»Gut. Und Glenda: Hören Sie auf, Timothy so anzustarren. Um Himmels willen, meine Leiche ist noch nicht mal kalt. Da unten sitzt ein ganzes Oktoberfest von deutschen Touristen, mit denen Sie sich vergnügen können.«
»Ich schäme mich, wirklich«, sagt sie. »Das liegt nur an den Haaren. Mit dieser Frisur bekommt mein Hirn kein Blut.«
»Und Sie, Daniel Metcalf.«
Er steht vor mir, die Lippen fest zusammengedrückt, aber mit einem Lachen in den Augen. »Ja, Dr. Canfield, Maâam.«
»Sie, Sie«, fange ich an, aber meine Wut hat keinen rechten Schwung mehr, und mir fehlen die Worte. AuÃerdem habe ich das Gefühl, durch den Wein würden meine Arme mir nicht mehr gehorchen. In diesem Moment steht Timothy mühsam auf und umarmt mich unbeholfen.
»Schon gut, Ella«, sagt er. »Guck doch nicht so traurig. Wirklich. Denk einfach nicht mehr daran. Es war unfair, dich in diese Lage zu bringen. So schlimm ist es gar nicht. Mir geht es schon besser. Ich mag dich natürlich sehr, aber ich überstehe das schon. Keine Sorge. Kopf hoch. Wie sagt man doch gleich? Lieber spät als Nachsicht.« Er legt mir einen Arm um die Schultern und zwinkert Greta zu.
Der Abend geht noch etwa anderthalb Flaschen weiter. Greta wird zunehmend albern. Timothy erzählt, sein Vater hätte ihn nie verstanden, schwört mir ewige Freundschaft, Daniel und Julius echte Verbundenheit, und legt Greta seine Jacke um die Schultern, als er merkt, dass sie zittert. Daniel bietet an, sein Zelt mit Timothy zu teilen, falls Greta nicht lieber wegen ihrer Klaustrophobie unter den Sternen schlafen wolle, was sie dank ihrer erfolgreichen Therapie verneinen kann. Daniel scheint bestens aufgelegt und stimmt mit Timothy sogar eine schaurige Version von Summer Nights an, Daniel mit Fistelstimme als Olivia Newton-John und Timothy als John Travolta.
Nur ich bin still. Ich sitze reglos neben der Lampe und hoffe, dass mein Gesicht im Schatten liegt und sie mich nicht sehen können. Ob mein Vater oder Ruby solche Situationen auch erlebt hat, als sie jünger waren, als sie noch groÃe Nummern abzogen und im Luxus schwelgen konnten dank ihres Verstands? Sie haben bestimmt nie Stunden von der zivilisierten Welt entfernt im Busch gesessen und zugehört, wie ein paar betrunkene Irre Songs aus den groÃen Musicals der Siebziger sangen, die offenbar nicht nur die Glanzzeit der Pornoindustrie waren.
Als Kinder haben wir zu Hause auf Dad und Ruby gewartet und nur von den Höhepunkten ihrer Erfolge gehört, nie von ihren Mühen und Tiefschlägen. Diese ganze Sache geht vor meinen Augen den Bach runter. Ich bezweifle, dass ich das Geld je sehen werde, und noch schlimmer ist, dass ich den Blick nicht von Daniel losreiÃen kann. Ich verfolge jede seiner Bewegungen, jede winzige Geste. Trotzdem scheinen er und sein Geld unerreichbar. Mit jedem Refrain rücken sie in weitere Ferne.
Z uerst etwas Ernstes: Ruby hat gesagt, ich würde mich nicht an meine Mutter erinnern, aber sie irrt sich. An eine Sache erinnere ich mich. Ich habe nie jemandem davon erzählt, vor allem niemandem, der mir widersprechen könnte, wie mein Vater oder Sam. In meiner Erinnerung bin ich in einem dunklen, stillen Zimmer. Ich sitze auf etwas Weichem und muss mich anstrengen, um nicht die Balance zu verlieren und umzukippen. Dabei klammere ich mich an dünne Holzstäbe, zwischen denen meine Arme hindurchpassen, aber weder mein Kopf noch mein Körper. Ich rüttle an den Stäben, aber sie bewegen sich nicht. Ich strecke eine Hand nach unten und hebe etwas GroÃes, Weiches auf â einen Teddy? Ein Lichtstrahl fällt herein, und ich sehe ihr Gesicht. Wegen dieses Moments schäme ich mich: Ich kann mich nicht an ihr Gesicht erinnern. Von den Tausenden Gesichtern, die ich im Laufe der Jahre gesehen und mir eingeprägt habe, ist ihres vielleicht das einzige, an das ich mich nicht erinnere. Ihres und manchmal auch meines.
Auch ohne mich an ihr Gesicht zu erinnern, weià ich, dass ihr Anblick mich mit Freude und Trost und Frieden erfüllt. Ich lasse den Bären und das Gitter los und strecke ihr die Arme entgegen â dann wird sie näher kommen, das weià ich. Sie wird mich hochheben. Nichts
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