Die schönsten Dinge
anderes zählt, nur dass sie mich hochhebt und auf dem Arm hält. Aber sie kommt nicht näher und hebt mich auch nicht hoch. Irgendwann lasse ich die Arme sinken. Ich quengele ein wenig vor Wut, die offenbar schon immer zu meinem Wesen gehört hat. Da verschwinden das Licht und auch das Gesicht. Das ist alles, woran ich mich erinnere.
Und jetzt etwas Flapsiges: Am liebsten würde ich mich aus dem Zelt stehlen, während alle schlafen. Mit dem ReiÃverschluss würde ich mich gar nicht aufhalten. Ich würde ein Taschenmesser nehmen und in die Rückseite, die zu den Büschen zeigt, einen gezackten Riss schneiden. Ich würde das Messer mit beiden Händen packen, oben ansetzen und es mit meinem ganzen Gewicht nach unten ziehen. Mitten in der Nacht würde ich lautlos den Weg hinunterlaufen, vorbei an den schlafenden Deutschen, durch den Bach waten und im Schein des Mondes oder meiner Taschenlampe den Hang hinaufgehen. Oder auch nicht â ich könnte um die Landspitze herumschwimmen und mich an einer passenden Stelle ans Ufer schleppen. Mein Land war schon immer ein Ort, an dem sich Menschen ans Ufer geschleppt haben, um ein neues Leben anzufangen. Ich würde nichts mitnehmen. Mein neues Leben wäre nicht so anstrengend und frustrierend wie dieses.
Als ich mir das überlegt habe, komme ich mir zuerst wirklich flapsig vor. Zumindest zeugt es nicht von groÃem Respekt, nicht meiner Familie, nicht Daniel und auch nicht dem Zelt gegenüber. Aber nachdem ich den Gedanken in allen Einzelheiten durchgespielt habe, kommt es mir doch auch ernst vor. Natürlich setze ich ihn nicht in die Tat um.
Das Wasser ist ruhig, aber nicht so ruhig, dass ich mich darin spiegeln würde. Meine Arme bewegen sich über die Oberfläche wie über geriffelten Sand. Ich weiÃ, dass ich ein wenig eitel bin â schlieÃlich hat Ruby mich groÃgezogen â, aber jetzt fällt mir auf, dass ich gar keinen Spiegel mitgenommen habe.
Ich bin früh wach geworden, falls ich überhaupt geschlafen habe. Ich habe im Zelt meinen Badeanzug angezogen und bin leise hierher gelaufen, als es gerade dämmerte. In unserem Lager war alles still, das einzige Lebenszeichen waren Timothys FüÃe, die aus Daniels Zelt ragten. Auch von den Deutschen habe ich im Vorbeilaufen keinen Mucks gehört. Die meisten haben in Schlafsäcken direkt im Sand geschlafen, andere nur auf Isomatten oder an den Bäumen, an denen sie gestern Abend gelehnt haben. Als ich ins Meer gewatet bin, hatte das Laub an den Wipfeln die gleiche Farbe wie der Himmel, aber jetzt nicht mehr. Jetzt stehen sie im Gegenlicht. Das Wasser scheint extrem salzig zu sein, es trägt mich, und ich spüre kaum noch das Pochen in meinen verspannten Beinen oder meinen Hals, der vom Schlafen auf der Erde steif ist. Luft und Wasser sind kalt, aber das nehme ich kaum wahr. Ich strecke das Gesicht dem Himmel entgegen. Ich schwebe.
Auf dem Weg rührt sich etwas. Jemand kommt mit nacktem Oberkörper und einem Handtuch zum Strand herunter. Auch ohne hinzusehen, weià ich, dass es Daniel ist. Ich bin bis zum Kinn untergetaucht. Daniel läuft ins Wasser und hat mich nach ein paar lockeren Zügen erreicht.
»Hätte ich gewusst, dass Wissenschaftler so unterhaltsam sind, hätte ich mich schon viel früher an Universitäten herumgetrieben«, sagt er. Er rudert mit den Händen vor und zurück und drückt sie gegen das Wasser, als hätte er Schwimmhäute.
»Ganz schön unverschämt, dass Sie keinen Kater haben«, sage ich. »Das ist nicht in Ordnung.«
»Sie sehen aber auch nicht mitgenommen aus.«
»Mit einer Stimme komme ich vielleicht zurecht. Aber wenn die Vögel loslegen oder die Deutschen aufwachen, habe ich ein Problem. Ich fühle mich, als würde ein wütender Zwerg auf meinen Schultern sitzen und mit den Knien gegen meine Ohren drücken. Kommen die anderen auch runter?«
»Noch nicht. Joshua dürfte es gut gehen. Glenda und Timmy ⦠na ja, heute Morgen möchte ich nicht in ihren Köpfen stecken.« Nachdenklich zieht er eine Augenbraue hoch. »Eigentlich nie.«
Ich spüre, wie er das Wasser mit den Händen bewegt. Kleine Wellen schwappen über meine Schultern.
»Ich weià ja nicht, was Sie für heute geplant hatten«, sagt er. »Wie viel Sie schaffen wollen.«
Seine Schultern sind von kleinen Wassertropfen bedeckt, in seiner
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