Die schönsten Dinge
Bücher wurden mit Liebe ausgesucht, oft benutzt, zurückgestellt, abgestaubt. Ich lasse eine Hand über eine Reihe von Einbänden gleiten.
Evolutionsbiologie. Evolution. Wege des Entstehens: Evolutionäre Entwicklungsbiologie. Und auf einem anderen Bord: Entstehung und Evolution der Säugetiere, Der letzte Tasmanische Tiger: Geschichte und Ausrottung des Beutelwolfs. Und es gibt noch mehr davon, Dutzende, vielleicht Hunderte, von Paläontologen und Biologen und Tierforschern. In der Mitte des Raums liegt in einer Glasvitrine ein altes, in grünes Leder gebundenes Buch. Auf dem Rücken steht: Ãber die Entstehung der Arten. Darwin. Auch ohne nachzusehen, weià ich, dass es eine Erstausgabe ist. An der langen Wand hängt eine Reihe von gerahmten Urkunden. Ich sehe mir nur eine an. Darauf steht: Hiermit wird bestätigt, dass Daniel Solomon Metcalf den Master of Science in Organismischer Biologie und Evolution erworben hat. Harvard University Graduate School of Arts and Sciences.
Es verschlägt mir den Atem. Ich muss mich setzen. Wenn ich mich nicht setze, kippe ich um. Mit tiefen Atemzügen versuche ich, mich zu beruhigen. Ich weià nicht, wie lange ich nur dasitze, mir dieses Zimmer ansehe, mir jede Bemerkung von ihm noch einmal ins Gedächtnis rufe â und unwillkürlich lächeln muss. Dieser raffinierte, hinterhältige Kerl.
Als ich ein dumpfes Klingeln höre, halte ich es erst für das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, bevor ich es als den Ton meines Handys erkenne. Sam will mir anzeigen, dass Daniel zurückkommt. Ich habe es zu spät bemerkt. Jetzt habe ich ein echtes Zeitproblem.
Ich laufe aus dem Arbeitszimmer und ziehe die Tür hinter mir zu. Die Treppe runter, immer drei Stufen auf einmal, dabei falle ich mit meinen Absätzen fast hin. Als ich ins Esszimmer stürme, ist von Daniel noch nichts zu sehen, aber sobald ich sitze, höre ich seine Schritte im Flur. Ich habe es in letzter Sekunde geschafft. Ich bringe meinen Atem und meinen Herzschlag unter Kontrolle. Ausgerechnet das. Nach all meinen Ãngsten und Hoffnungen. Von Anfang an hat er sich für jemanden ausgegeben, der er nicht ist. Er ist genau wie ich.
»Tut mir leid«, sagt Daniel, aber er klingt nicht, als täte es ihm wirklich leid. »Das war die falsche Adresse. Der Typ wusste nicht, was er tut.«
Er ist wieder ganz geschäftsmäÃig. Mit finsterem Blick schiebt er mir den weiÃen Umschlag zu. »Alles drin. Sieh nach, wenn du willst.« Er schlägt eine Mappe auf und fängt an zu lesen. Ich bin entlassen.
»Ich glaube dir«, sage ich.
»Schön. Glaub mir. Ich habe viel zu tun. Du findest sicher allein den Weg nach drauÃen.« Immer noch hält er den Kopf gesenkt.
Ich lächle. Sprechen kann ich noch nicht. Die Dinge um mich herum scheinen unsichtbar geworden zu sein. Das Fenster zu meiner Rechten, die Bücher, die Antiquitäten, die gerade noch hier waren, sind verblasst. Nicht einmal den Teppich kann ich mehr sehen. Auch die Zimmerdecke über mir ist verschwunden. Es gibt nur noch Daniel. Ich weiÃ, wie er aussieht. Ich habe ihn noch nie gesehen.
Jetzt bin ich eine Wissenschaftlerin, eine echte Forscherin, und ich betrachte ihn wie durch ein Mikroskop: als wäre er eine wunderbare neue Entdeckung, etwas unglaublich Seltenes, an das ich nie geglaubt hätte. Ich sehe, wie kurz und akkurat die Haare hinter seinem Ohr geschnitten sind, wie die längeren Haare an der Seite leicht abstehen. Ich sehe die Haut an seinem Hals, jede Zelle, jedes samtweiche Haar, die sonnengebräunte Haut an seinen Armen, die in der Ellenbeuge und zwischen den Fingern zarter und heller wird. Die sanfte, rautenförmige Kerbe zwischen seiner Oberlippe und der Nase. Es kommt mir vor, als könnte ich plötzlich besser sehen, als hätte dieses ganze Beiwerk meinen Blick getrübt, und nachdem all das weggefallen ist, sehe ich Daniel jetzt klarer als je irgendetwas zuvor. Für einen kurzen Augenblick ist mir, als hätte ich übermenschliche Kräfte.
DrauÃen frischt der Wind auf, die Fensterläden schlagen leise quietschend gegen das Haus. Die Luft im Zimmer wirkt dagegen erstarrt. Es ist still hier, auf der Toorak Road heult irgendwo die Alarmanlage eines Autos. Sam ist mittlerweile auf dem Weg nach Hause, um den Lieferwagen im hinteren Schuppen zu parken, den Aufkleber abzuziehen und das Werkzeug zu verstecken. Ich nehme den
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