Die schoensten Weihnachtsgeschichten
wurde es auch ausgeführt. Ich zog den Hut finster tief in die Stirne und schob mich mit fortgehaltenem Gesicht an dem Billettknipser vorbei. Freilich fuhr ich gleich schreckhaft herum, als er mir nachrief: »He, Sie! Ja, Sie beide – in Flötau umsteigen! Nicht vergessen!«
»Weiß ich ja«, murmelte ich verdrossen, weil er nun doch mein Gesicht gesehen hatte, und ich malte mir aus, wie der eifrige Fiete vielleicht heute mittag schon nach uns stöbern würde …
In dem Wagen vierter saßen nur zwei, eine Bauernfrau und ein Arbeiter, jedes in eine Ecke gedrückt, beim Einschlafen. In die dritte Ecke setzte sich August Böök, murmelte etwas von einem Auge von Schlaf und war auch weg. Ich lehnte lange, nach dem Wagen zweiter Güte spähend, aus dem Fenster, bis die Bauersfrau über Kälte murrte und das Schließen forderte. Dann suchte ich in meinen Taschen nach den natürlich vergessenen Zigaretten, bis ich den Brief an das Steueramt fand.
Ich schoß aus dem Wagen. »Halt!« rief der Vorsteher. »Der Zug fährt jetzt!«
Aber die Annahmeerklärung mußte fort, sonst wurde es doch kein richtiges Weihnachtsfest. Ich schoß durch Sperre und Halle, der Briefkasten war außen vor der Bahnhofstür. Während ich lief, überlegte ich, daß der Zug bei meiner Rückkunft fort sein würde, daß ich den Brief ebensogut auch in Flötau hätte einstecken können, daß ich mich bis zum nächsten, bis zum Zwölf-Uhr-Zugunmöglich ohne Entdeckung auf dem Bahnhof würde herumdrücken können …
Dann fiel die Briefklappe über dem Brief. Ich raste zurück. Der Knipser schrie mich so grob an, wie wohl noch nie ein richtiger Millionär angeschrien worden ist, der Vorsteher war noch gröber … Ich stolperte in mein Abteil, die schliefen, einschließlich August Böök … Die Lokomotive zog an, ratternd, stuckernd setzte sich der Zug in Bewegung, klapperte über die Weichen – und nun ging es schon immer klarer und schneller: Rattatta, rattatta, ratt, ratt, ratt …
Erleichtert aufatmend lehnte ich mich in meine Ecke. Nun fuhren wir wirklich unserem Weihnachtsfest entgegen, und die Erbschaft war reguliert! Zum Zuggeräusch sang ich bei mir: Die Preußen haben Paris genommen, jetzt werden bald bessere Zeiten kommen!
Sang es lange, immer leiser, immer verschwommener, bis auch ich hinübergedrusselt war, genau wie die anderen Schläfer.
Es weckte mich aber ein ungeduldiges Ziehen an meiner Nase. Die Mücke kniff und zog mich wach mit dem Ruf: »Papa, es schneit! Papa, sieh doch, es schneit! – Papa, heute ist Weihnachten, und es schneit! – Nun mach doch, Papa, und wach auf! Es schneit ja –!«
»Wo kommt ihr denn her?« fragte ich höchst ungnädig und sah verschlafen um mich. »Sind wir denn schon in Flötau? Ihr solltet doch …«
Im Wagen vierter Klasse »Für Reisende mit Traglasten« war ein graues, fahles Dämmern. Die Mitfahrer schliefen noch, auch der August, trotz des Jubelgeschreisder Mücke – oder sie taten doch so. In die Eisschicht des Fensters hatte Mückchen einen Ausguck gehaucht und sah hinaus.
»Es schneit aber wirklich, Papa! Sieh doch mal!«
»Großartig, Mückchen«, sagte ich, und zu Karla: »Wieso seid ihr denn jetzt hier? Wir wollten uns doch gar nicht kennen.«
Es stellte sich heraus, daß Mückchen von der ersten Flocke an nicht zu halten gewesen war, sie mußte dem Vater den Weihnachtsschnee melden. »Gewiß hat uns keiner gesehen beim Umsteigen. Es war ganz dunkel, und wir haben so schnell gemacht!«
»Aber wenn die dahinterkommen …!«
Ich war für genaueste Durchführung unseres Vorsichtsprogramms – bei den anderen, so viel leichtsinnige Fehler ich auch selbst auf dem Radebuscher Bahnhof begangen hatte. Aber schließlich, als ich erst richtig wach geworden war und mit Mücke den Schneeflockentanz gebührend bewundert hatte, lenkte ich ein: »Na also schön, Karla. Es wird alles wohl gut gehen. Ich meine ja bloß … Dir wäre es doch am allerunangenehmsten, wenn morgen schon der Fiete auftauchte. Und Justizrat Steppe. Und Herr Matz. Und die Kiesow …«
»Schweig stille, Max!« bat mich Karla und gab mir zum Zeichen, wie sehr sie unser Alleinsein schätzte, einen richtigen Kuß, nicht so einen der in letzter Zeit üblichen Ehestandsküsse.
Darauf schwieg ich gerne still, und nun saßen wir beieinander, sahen auf die drei Schläfer, antworteten der Mücke, und langsam wurde es, während wir Flötau entgegenrollten,heller und hell im Abteil, bis der Schaffner kam, das Licht löschte und
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