Die Schokoladendiät
AUF, WIR HABEN DICH ALLE LIEB. Nadia schaltete ihr Handy aus. Es tat gut zu wissen, dass sie Freundinnen an ihrer Seite hatte.
Inzwischen war sie vor Jetlag und Hunger fast im Delirium. Nichts wäre ihr jetzt lieber gewesen als ein Schokoladenriegel – ein Toffee Crisp oder ein gekühltes Dairy Milk. Ein Zuckerschub würde ihrer Konzentrationsfähigkeit sicher auf die Sprünge helfen. Vielleicht sollte sie sich einen Hamburger oder sonst etwas zu essen kaufen, in ihr schäbiges Hotel zurückkehren, und ein paar Stunden wohlverdienten Schlaf genießen. Aber vielleicht war ihr Mann nur wenige Schritte entfernt gerade dabei, den nächsten Einsatz zu setzen. Und sie könnte ihn rechtzeitig daran hindern.
Die letzten Kräfte mobilisierend, ging sie weiter zum Treasure Island, wo die allabendlichen Piraten-Shows längst zu Ende waren. Sie ließ die verlassene Galeone vor dem Hotel links liegen und folgte den Wegweisern zum Kasino. New York verkaufte sich ja stolz als die Stadt, die niemals schlief, doch Las Vegas war der eigentliche Traum aller Schlaflosen. Es war nach zwei Uhr, doch an den Tischen und Spielautomaten saßen immer noch massenhaft Menschen. Toby war nicht unter ihnen. Und er war auch nicht im Cirus, Cirus, nicht im Riviera und nicht im Sahara.
Inzwischen hätte Nadia vor Erschöpfung ohnmächtig werden können, und es erforderte ihre ganze Willenskraft, sich nicht einfach auf den Boden zu legen und zu schlafen. Sie schaute auf ihre Karte. Das letzte Hotel an diesem Abschnitt des Strip war das Stratosphere Hotel, ein Wolkenkratzer, der von oben eine spektakuläre Lichtshow über das Vegas Valley herabließ. Ganz oben, hundert Stockwerke hoch, beförderten Fahrattraktionen namens Big Shot, X-Scream und Insanity Ride die wahrhaft Furchtlosen mit todesverachtender Präzision über den Rand des Turms und ließen sie über der urbar gemachten Wüste baumeln. Nadia schüttelte den Kopf. Wie um alles in der Welt konnte jemandem so etwas Spaß machen? Sie hatte gerne festen Boden unter den Füßen.
Wenn sie das Stratosphere durchkämmt hatte, war sie den Strip in ganzer Länge einmal abgewandert und hatte mehr Kasinos besucht, als ihr lieb war. Dann konnte sie ein Taxi ins Hotel nehmen und sich ausruhen. Um das Ganze am nächsten Tag noch einmal von vorne zu beginnen.
Allmählich verschwammen die Lichter vor ihren Augen, und Nadia musste sich zwingen, sie offen zu halten. Plötzlich schrien die Menschen auf dem Gehweg vor ihr auf, und kaltes Grauen traf Nadia wie ein Blitzstrahl. Sie fing an zu laufen. Schmerz schoss ihr durch die Beine, doch sie rannte immer weiter. Von hinten näherte sich schrill ein Martinshorn, und ein Krankenwagen hielt mit quietschenden Reifen am Straßenrand. Als Nadia den Turm erreichte, hatte sich dort bereits eine Menschenmenge versammelt.
«Ein Springer», sagte jemand zu ihr, und ihr Herz erstarrte zu Eis.
Eine Frau in grellbunter Hawaiibluse und viel zu engen Shorts schluchzte hysterisch, die Augen auf die Spitze des Turms gerichtet, während ihr verzweifelter Ehemann vergeblich versuchte, sie zu beruhigen. Er hatte eine Glatze und schwitzte. Nadia dagegen fror bis ins Mark. Die Sanitäter schoben sich durch die Menschenmenge und versuchten, die neugierigen Gaffer zu zerstreuen. Gegen besseres Wissen schaute Nadia nach oben, wo sämtliche Blicke auf eine kaum erkennbare Gestalt an der Spitze des Turms gerichtet waren – ein winziger Punkt am unendlich schwarzen Himmel.Der Mann schwankte vor dem Schutzgitter, ein greller Scheinwerfer war auf ihn gerichtet, und die Menschenmenge kreischte jedesmal auf, wenn er eine Bewegung machte. Wie ferngesteuert folgte Nadia den Sanitätern auf dem Weg durch das Gedränge. Trotz der heulenden Martinshörner konnte sie ihren eigenen Atem hören.
Es spielte keine Rolle, dass sie den Mann kaum erkennen konnte. Sie wusste instinktiv, wer er war. Nadia schob sich weiter an den Menschen vorbei, und berührte einen Sanitäter am Arm.
Er hielt eine Hand hoch. «Treten Sie bitte zurück.»
Sehr ruhig, mit einer Stimme, die ihr fremd war, sagte Nadia: «Ich glaube, das da oben ist mein Mann.»
Minuten später hatte man sie durch die Menschenmenge geschoben und in den Aufzug bugsiert. Es schien nur Sekunden zu dauern, bis sie die Spitze erreichten und Nadia von einem stämmigen Polizisten eilig auf die Aussichtsterrasse geführt wurde.
So hoch oben auf dem Turm wehte ein kalter Wind, und einen Augenblick dachte Nadia, wie angenehm es war, aus
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