Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
Abends, es war Herbst, man hörte das Laub draußen rascheln, wurde Franks Vorgesetzter Jürgen erstmals samt Gattin zum
Abendessen erwartet. Wie es mittlerweile Sitte ist, pflegt Frank ein beinahe freundschaftliches Verhältnis zu seinem Chef,
man duzt sich im Büro mit größter Selbstverständlichkeit, trinkt Espresso miteinander usw.
Es würde den Rahmen dieser Geschichte sprengen, ausführlich darüber Bericht zu erstatten, mit welch großem Aufwand sich unser
junges Paar der Zubereitung des Drei-Gänge-Menüs an diesem Samstagnachmittag widmete. Man hatte sich nach langen Überlegungen
dazu entschlossen, als Hauptspeise den Gästen ein Mahl vorzusetzen, das sich nicht durch Extravaganz, sondern durch schmackhafte
Schlichtheit auszeichnet. Ein Gericht von gewissermaßen veredelter Alltäglichkeit, damit keine gezwungene Stimmung aufkommt:
sizilianische Pasta, die durchaus überrascht, da die Nudeln mit ungeschälten Kartoffelscheiben kombiniert werden. Das Pesto
ist selbst zubereitet, was übrigens einfacher vonstatten geht, als gemeinhin angenommen (100 g Basilikum – d. i. 1 bis 2 Bund
–, 3 EL Pinienkerne, 2 Knoblauchzehen, 5 EL geriebener Parmesan, Salz & Pfeffer; die Zutaten pürieren, bis eine
gleichmäßig feine Masse entsteht. Dann langsam |118| 120 ml natives Olivenöl untermischen und mit Salz und Pfeffer abschmecken).
Dass der Abend keineswegs zur Zufriedenheit der Gastgeber ablaufen sollte, lag jedenfalls nicht am Essen, das auf geradezu
besorgniserregende Weise euphorisch gelobt wurde. Jürgen, als er in das Gemisch aus Pasta, Pesto und Kartoffeln biss, rang
sich noch mit vollem Mund zu einem »Mmmmh, schmeckt das gut« durch, was von seiner Gattin durch heftiges Kopfnicken und ein
freudiges »Aber wirklich!« bestätigt wurde. (Die Gattin des Vorgesetzten, der Vollständigkeit halber sei es gesagt, arbeitet
als Lektorin in einem Architekturfachverlag. Sie lernte Jürgen, der zwanzig Jahre älter ist als sie, während eines gemeinsamen,
äußerst ambitionierten Buchprojektes kennen. Eine gewagte Häuserzeile seines Architekturbüros samt der Innenräume hat sie
abfotografieren lassen zwecks Herstellung eines Bildbandes, dem ein kluger Essay eines Kulturwissenschaftlers vorangestellt
war. Alles in allem, man kann es im Nachhinein nicht anders sagen, war dem Projekt zwar nur wenig Erfolg beschieden – knapp
700 verkaufte Exemplare –, aber immerhin: Es war der Beginn einer großen Liebe.)
Bevor wir zum Tischgespräch übergehen, sei noch rasch gesagt, dass sich der Empfang der Gäste auf für die heutige Zeit typische
Weise vollzog. Zwar legt man wieder erhöhten Wert auf gute Umgangsformen, doch ist die Unsicherheit groß, wie sich zu verhalten
sei. Als Frank und Angelika die Tür öffneten und die Gäste vor ihnen standen, herrschte ein klein wenig Befangenheit. Allerlei
ging beispielsweise |119| Angelika durch den Kopf: Sollte sie die Frau Jürgens, der sie vorher nie begegnet war, gleich mit Wangenkuss begrüßen oder
zunächst Jürgen die Hand reichen? Oder Jürgen zuerst mit Wangenkuss begrüßen und dann ihn seine Frau den Gastgebern erst einmal
vorstellen lassen?
Nun, man konnte den Gastgebern zumindest den Willen zur Form nicht absprechen: Frank begrüßte die Gattin seines Vorgesetzten
mit Wangenküssen. Dreimal abwechselnd auf die linke und rechte Wange, wobei die Gattin des Vorgesetzten auf einen vierten
Kuss eingestellt war und, dieser Verwirrung wegen, die Köpfe der beiden beinahe zusammengestoßen wären; eine Peinlichkeit,
die mit nonchalantem Lachen der Vorgesetzten-Gattin überspielt wurde. Zur gleichen Zeit half Angelika Jürgen aus dem Mantel,
der, des Kleidungsstücks entledigt, Frank die Hand reichte. Die Damen wurden danach von Frank gegenseitig vorgestellt und
gaben sich, zunächst unsicher, was zu tun sei, ebenfalls die Hand. In all der Hektik hatten Jürgen und Angelika vergessen,
sich zu begrüßen, aber da man sich rasch im Gespräch befand, fiel dies nicht weiter ins Gewicht.
Nicht nur die Speisen fanden große Anerkennung. Auch der Wein, ein Bordeaux Saint Estèphe, schien zu munden. Jedenfalls machte
Jürgen einige anerkennende Bemerkungen, das Getränk betreffend. Überhaupt machte Jürgen auf die Gastgeber einen ausgesprochen
redseligen Eindruck, aber da er mit Abstand der älteste am Tisch war (Jahrgang 1946) und seine Erzählungen durch eine reiche
Lebenserfahrung gesättigt waren
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