Die schonende Abwehr verliebter Frauen oder Die Kunst der Verstellung - Soboczynski, A: Die schonende Abwehr verliebter Frauen
sie sich auf dem Weg zu Karl-Heinz
Wettering, um, wie man vereinbart hatte, die Tagungsvorbereitungen zu vertiefen. Als sie die romanistische |164| Bibliothek durchquerte, deren Kopfseite an das Dienstzimmer von Wettering angrenzte, wurde Professor Meierwitz, der sehr ernsthaft
mit seinem gedrungenen Oberkörper über Bücher gebeugt saß, vom Klang ihrer Stöckelschuhe aufgeschreckt. Er verfolgte beinahe
ungläubig ihre tanzenden Schritte, sah genau, dass Wettering ihr bereits die Tür seines Zimmers aufhielt und sie zur Begrüßung
mit Wangenküssen empfing. Was macht die denn die ganze Zeit bei Wettering, dachte Meierwitz und blätterte zerstreut durch
ein großformatiges, mit winzigen Fußnoten versehenes Werk. Dann putzte er sich umständlich seine Brille.
Es war bereits kurz vor 20 Uhr. Gleich würde die Bibliothek schließen. Meierwitz, nachdem er sich eine Frage ersonnen hatte,
weshalb er Wettering zu so später Stunde in seinem Büro noch aufsuchen müsse, klopfte an dessen Dienstzimmertür. Nichts geschah.
Er legte, nachdem er sorgsam überprüft hatte, dass ihn niemand dabei beobachtete, sein Ohr an die Tür. Er vermeinte ein Keuchen
zu hören, ein regelmäßiges Ziehen und Zerren, ein leises Lachen. Langsam, wie von einer fremden Macht gesteuert, drückte er
die Tür auf, trat mit kurzen Schritten hinein.
Und es dauerte einige Sekunden, bis das Paar, das die Glieder auf eher konventionelle Weise ineinander verschränkt hatte,
bemerkte, dass ihr blasser, ungläubig dreinblickender Kollege an der Tür stand und sie mit offenem Mund beobachtete.
Nun, wer in eine derart peinliche Situation gerät, reagiert oftmals falsch: In der Aufregung macht man ungelenke |165| Bewegungen, entschuldigt sich knechtisch für das Durcheinander usw. Nicht so Karl-Heinz Wettering, der doch mit einem ganz
erstaunlichen Selbstbewusstsein ausgestattet ist. Es gab nur eine Schrecksekunde, während der er zusammenzuckte, als er den
Beobachter erblickte, dann sagte er zu Annette Kirchmann, von der er sich rasch gelöst hatte, dass er sie kurz um Entschuldigung
bitten müsse, trat, nachdem er sich behände die Hose wieder hochgestreift hatte, zu seinem Kollegen Meierwitz und fragte diesen,
wie er ihm behilflich sein könne. Er sei so versunken gewesen in Gespräche mit Frau Kirchmann, dass ihm gar nicht aufgefallen
sei, dass es an der Tür geklopft habe. Dann trat er ihm noch einen Schritt entgegen. Meierwitz wich wortlos aus dem Raum.
Wettering schloss die Tür.
Immer gilt es, sobald man sich in einer peinlichen Situation befindet, um weiteren Schaden von sich abzuwenden, dem Beobachter
der Peinlichkeit durch die größte Selbstverständlichkeit im Auftritt, durch Souveränität eine krämerische Sklavenmoral anzuzeigen,
ihn sein hässliches Begaffen spüren zu lassen. Unser Professor hätte sich also gar nicht besser verhalten können. Alternativ
dazu bietet es sich an, die Situation durch Selbstironie zu überspielen: »Na, da haben Sie uns aber erwischt!« Man sieht sogleich,
dass dies aber nur die zweitbeste Wahl ist.
Zwar ist Scham und Peinlichkeit nicht immer vermeidbar, ja, der Philosoph Helmuth Plessner geht gar davon aus, dass jeder
an einem Punkte »die Karikatur seiner selbst« wird, da das Innere, das man zur Sprache bringen möchte, an den |166| Grenzen des Körpers und seiner Ausdrucksmöglichkeiten bisweilen zerschelle, ein Umstand, der Grundlage aller Komik der Anschauung
sei. Doch gerade derartige Situationen sind wiederum prächtige Chancen, um die schönste Kontrolle über sich selbst und über
andere unter Beweis zu stellen.
[ Menü ]
|167| 27 NIEMALS AUFDRINGLICH SEIN
W ie unglückselig sind die Aufdringlichen! Die um eines Verlangens willen jeder Geduld entbehren und jedes Taktgefühls. Die
vom Fieber Befallenen, die Erhitzten, die einer unbedingten Erfüllung zustreben, einer Offenbarung.
Ach, wie rastlos sind die ohnmächtig Verliebten heute wie zu allen Zeiten. Sie schreiben zwei, drei SMS in kürzesten Abständen
hintereinander, nicht mit den Fingern auf Gitarrensaiten suchen sie heute ihre Leiden zu stillen, sondern an der winzigen
Tastatur ihres Handys. Ihr Blick so drängend auf dem Display, das keine Antwort anzeigt, keine Linderung des Verlangens. Sie
rufen an, mehrmals, doch es ist nur die freundliche Stimme der Mailboxansage am anderen Ende.
Verblendete! Lasst ab!
So verzweifelt stellte sich die Layouterin eines großen Modemagazins ganz
Weitere Kostenlose Bücher