Die Schopenhauer-Kur
Zweifüßler.
Philip drehte sich um und ging am Jachthafen entlang, dann durch Chrissy Field zur Bucht und ans Ufer des Pazifiks, wo ihn die ruhige Brandung und das zeitlose Aroma von Meersalz beschwichtigten. Er bibberte und knöpfte seine Jacke zu. Im schwindenden Tageslicht strömte der Wind durch das Golden Gate und sauste an ihm vorbei, ebenso wie die Stunden seines Lebens ohne Wärme oder Freude auf ewig vorbeisausen würden. Der Wind kündete den Frost endloser künftiger Tage an, arktischer Tage, an denen er morgens ohne Hoffnung auf Heim, Liebe, Berührung, Fröhlichkeit aufstehen würde. Sein Gebäude des reinen Denkens war unbeheizt. Wie seltsam, dass ihm das noch nie aufgefallen war. Er ging weiter, doch mit der schwachen Ahnung, dass sein Haus, sein ganzes Leben, auf dürftigen, falschen Fundamenten errichtet war.
»Mit jeder menschlichen Torheit, (jedem) Fehler, Laster
sollten wir Nachsicht haben, bedenkend, daß, was wir da vor
uns haben, eben nur unsere eigenen Torheiten, Fehler und
Laster sind . . .« Ref 133
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Beim nächsten Treffen berichtete Philip weder von seinen beängstigenden Erlebnissen, noch gab er einen Grund dafür an, dass er die letzte Sitzung so abrupt verlassen hatte. Obgleich er sich inzwischen aktiver an den Gruppendiskussionen beteiligte, tat er das immer nach eigenem Gutdünken, und die Mitglieder hatten gelernt, dass Energie, die sie darin investierten, Philip seine Geheimnisse zu entreißen, verschwendete Energie war. Daher verlagerten sie ihre Aufmerksamkeit auf Julius und erkundigten sich, wie seine Empfindungen bei Philips Abbruch des vorigen Treffens gewesen seien.
»Bittersüß«, erwiderte er. »Bitter insofern, als ich ersetzt werde. Meinen Einfluss und meine Rolle zu verlieren, ist symbolisch für alles, was demnächst für mich zu Ende geht und auf das ich verzichten muss. Ich hatte eine schlechte Nacht nach der letzten Sitzung. Morgens um drei sieht alles finster aus. Kummer über alles, was vor mir liegt, stürmte auf mich ein: das Ende der Gruppe, meiner Therapie mit meinen anderen Patienten, das Ende meines letzten guten Jahrs. Das war also das Bittere. Das Süße ist mein Stolz auf Sie alle. Das schließt auch Sie ein, Philip. Stolz auf Ihre wachsende Unabhängigkeit. Therapeuten sind wie Eltern. Gute Eltern ermöglichen es ihrem Kind, so viel Autonomie zu erlangen, dass es von zu
Hause ausziehen und als Erwachsener funktionieren kann; ebenso ist es das Ziel eines guten Therapeuten, seine Patienten in die Lage zu versetzen, die Therapie hinter sich zu lassen.«
»Damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich etwas klarstellen«, verkündete Philip. »Es war nicht meine Absicht letzte Woche, mich Ihnen gegenüber anmaßend zu verhalten. Mein Handeln war reiner Selbstschutz: Ich war unsäglich aufgewühlt von dem Gespräch. Ich zwang mich, bis zum Ende der Sitzung zu bleiben, dann musste ich gehen.«
»Das verstehe ich, Philip, aber ich bin mittlerweile so sehr von Gedanken ans Ende beherrscht, dass ich vielleicht auch in freundlichen Situationen Anzeichen von Tod und Verdrängtwerden sehe. Außerdem ist mir wohlbewusst, dass sich in Ihrer Erklärung Fürsorge für mich versteckt. Dafür danke ich Ihnen.«
Philip neigte leicht den Kopf.
Julius fuhr fort: »Die Aufgeregtheit, die Sie beschreiben, klingt wichtig. Sollen wir sie ergründen? Wir treffen uns nur noch fünfmal; ich bitte Sie eindringlich, diese Gruppe zu nutzen, solange noch Zeit ist.«
Philip schüttelte zwar wortlos den Kopf, als wolle er andeuten, dass eine Ergründung ihm noch nicht möglich sei, doch es war ihm nicht beschieden, auf Dauer zu schweigen. In den folgenden Sitzungen wurde er unerbittlich mit hineingezogen.
Pam eröffnete ihre nächste Zusammenkunft, indem sie sich keck an Gill wandte: »Zeit für eine Entschuldigung! Ich habe über Sie nachgedacht, und ich glaube, ich schulde Ihnen eine . . . nein, ich weiß, dass ich Ihnen eine schulde.«
»Sagen Sie mehr dazu.« Gill war hellwach und neugierig.
»Vor ein paar Monaten habe ich Ihnen vorgeworfen, Sie seien nie präsent, Sie seien so abwesend und unpersönlich, dass ich es nicht aushalte, Ihnen zuzuhören. Erinnern Sie sich? Das waren ziemlich harte Worte –«
»Hart, ja«, unterbrach Gill sie, »aber notwendig. Sie waren
eine gute Medizin. Sie brachten mich auf den Weg – ist Ihnen klar, dass ich seit dem Tag nicht getrunken habe?«
»Danke, aber für damals entschuldige ich mich nicht – sondern für das,
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