Die schottische Braut
sich hin.
Es verging eine Stunde, dann eine weitere, ohne dass sie an einen Fluss gelangten. Harris begann bereits, an sich selbst zu zweifeln, als plötzlich eine frische Brise die Laubkronen über ihnen streifte. Mit dem Wind kam auch das willkommene Plätschern fließenden Wassers.
“Hörst du das, Harris?” Jenny packte ihn am Arm. “Ein Fluss liegt vor uns, so wie du es sagtest.”
Obwohl es ihn stolz machte, die Achtung in ihrer Stimme zu vernehmen, versuchte Harris, das Ereignis abzutun. “Robert Jardine sagte mir, dass es vier oder fünf kleine Flüsse gebe zwischen Richibucto und Miramichi.”
Sie suchten sich einen Weg den bewaldeten Abhang hinab und erreichten bald das Ufer. Ein Blick auf die Breite des Flusses, und Jennys freudige Erregung verschwand.
“Wie wollen wir jemals ans andere Ufer gelangen, Harris?”
“Nicht über eine Brücke, das ist sicher”, entgegnete er und verzog das Gesicht.
Mit einem Seufzer der Bestürzung sank Jenny zu Boden. Vor Ärger stiegen ihr Tränen in die Augen. “Oh Harris, ich bin noch einfältiger, als ich dachte! Wenn mir ein Gedanke in den Sinn kommt, stürme ich gleich los, ohne zu bedenken, was vor mir liegt.”
Harris ließ sich neben ihr nieder und legte Jenny den Arm um die Schultern. “Geh nicht so hart mit dir ins Gericht. Du machst eben, was du willst, und nimmst die Hindernisse leicht, die auf deinem Weg liegen – was ist daran so schlimm? Ab und zu kommst du dabei ganz schön ins Schwitzen, dennoch erreichst du dein Ziel. Es wäre eine armselige Welt ohne Menschen, die ihren Träumen folgen.”
Ihre Zweifel und Sorgen schwanden bei seinen Worten, so als hätte er ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. Und es schien, als würde das Blut in ihren Adern mit einem Mal kraftvoller und schneller pulsieren. Eine Welle von Vertrauen und Stärke durchflutete sie. Als eine innere Stimme Jenny zuflüsterte, dass sie nicht ihren schönen Träumen folgte, sondern ihren Albträumen entfloh, beachtete sie diese nicht.
Sie wandte sich Harris mit einem Lächeln zu, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ. “Es war bloß ein Scherz, als ich dich zu meinem guten Geist ernannte. Nun scheint aus dem Spaß Ernst geworden zu sein. Du vollbringst wahre Wunder an mir.”
Das war keine Lüge.
Als ihre Blicke sich begegneten, sehnte sich Jenny danach, sich an ihn zu schmiegen. Das war eine Versuchung, der sie widerstehen musste, gleichgültig wie sehr sie davon überwältigt war.
“Wie wollen wir über den Fluss kommen?” Sie zwang sich, woanders hinzusehen, um den Zauber durch nüchterne Betrachtungen zu bannen.
Harris zog seine Stiefel und Strümpfe aus. Dann rollte er seine Hose bis zu den Knien hoch und watete in den Fluss. Mit der Hand schützte er seine Augen gegen das Sonnenlicht, das grell auf die Wasseroberfläche traf. Er blickte lange flussaufwärts und noch länger flussabwärts.
“Wenn wir dahin gehen, wird der Fluss enger.” Er zeigte dabei flussabwärts. “Wir halten uns am Ufer und sehen, ob wir eine Furt finden. Oder einen umgestürzten Baum, mit dem wir hinübertreiben können.”
“Suchen wir eine Furt”, sagte Jenny. “Gib mir nur einen Moment Zeit, um meine Füße zu kühlen.” Auch sie legte Schuhe und Strümpfe ab, raffte die Röcke und gesellte sich zu ihm in den Fluss.
“Mmm!” Sie vergrub ihre Zehen im nassen Sand. “Ich muss eines gestehen. Nach allem werde ich nie wieder Wasser als etwas Selbstverständliches ansehen.”
Er lachte vergnügt. “Oder ein weiches Bett.”
Sie verweilten noch einige Augenblicke, erfreuten sich an der Mußezeit und dem kühlen Wasser, das ihre müden Füße erfrischte, bis Harris auf die Sonne zeigte und meinte, es sei Zeit, sich auf den Weg zu machen.
Erneut erwies sich seine Behauptung als richtig. Sie waren noch nicht weit gegangen, als sie an eine enge Stelle im Flusslauf kamen.
“Harris, schau doch!” Jenny wollte es kaum glauben. “Und du sagtest, wir finden keine Brücke.”
Sie lief darauf zu.
Hinter ihr hörte sie Harris’ Warnung: “Ich glaube nicht, dass das eine Brücke ist, Jenny.”
Das seltsame hölzerne Gebilde reichte von einer Seite der Enge zur anderen, doch nur ein Eichhörnchen konnte es überqueren. Wofür sollte dies gut sein?
Jenny verschwendete nur einen kurzen Gedanken daran. Zumindest würde es ihnen Halt bieten, um auf die andere Seite zu waten.
“Komm zurück, Jenny!” hörte sie Harris leise, doch eindringlich rufen.
Jetzt umkehren,
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