Die schottische Braut
weit von ihr entfernt summte jemand die Melodie mit. Jenny blickte sich um und entdeckte, dass Harris hinter ihr stand.
“Bist du deinen Verehrerinnen entflohen?” Sie bemühte sich, ihre Anspannung hinter Heiterkeit zu verbergen. “Ich hatte schon Angst, man würde dich in der Mitte entzweireißen. Wie fühlt man sich, wenn man so viel weibliche Aufmerksamkeit genießt?”
“Es ist eine erfreuliche Abwechslung.”
Die ermüdende Wärme des Whiskys durchdrang Jenny. Er betäubte weniger ihre verwirrten und widersprüchlichen Gefühle für Harris, vielmehr weichte er ihre sorgfältig aufgebaute Abwehr auf.
“Jedes unverheiratete Mädchen aus dem Dorf ist von dir hingerissen. Für sie alle bist du ein Held wie … Rob Roy oder Ivanhoe.”
“Mach keine Scherze. Du hast ihnen viele Geschichten erzählt, das ist alles.”
“Wahre Geschichten, Harris. Und ich muss zugeben, du bist ein Held.”
“Wie bitte?”
“Du hast schon richtig gehört.” Jenny richtete die Aufmerksamkeit auf die Sängerin und die Musikanten, denn sie wagte es nicht, ihn anzusehen. “Du solltest nicht nach Schmeicheleien suchen – das ist eines Ehrenmannes unwürdig.” Unvermittelt wechselte sie das Thema. “Worum geht es in dem Lied?”
“Es erzählt von einer Prinzessin und einem Ritter, der von weit her kommt, um ihre Hand zu erbitten.”
“Warum klingt es dann so traurig?”
“Weil die Prinzessin ihn zurückweist.”
“Ich verstehe.”
Jenny und Harris standen stumm nebeneinander, bis der letzte Ton verklungen war.
“Da ist etwas, was ich dir sagen muss”, bemerkte Harris, als die Geigen erneut anfingen aufzuspielen. “Du hattest recht mit meiner Mutter. Nicht meinetwegen ist sie fortgegangen – zumindest nicht so, wie ich immer dachte.”
Seine Worte trafen sie unerwartet. Obwohl Jenny es sich wohl kaum selbst eingestanden hätte, so hatte sie gehofft, dass Harris ihr raten würde, am nächsten Morgen nicht nach Chatham zu gehen.
“Wie konntest du das herausfinden? Hier, an diesem Ort.”
“Im Dorf lebt eine Frau, an deren Namen ich mich im Moment nicht erinnern kann. Ehe sie sich vermählte und nach New Brunswick kam, diente sie bei einem Tabak-Baron in Glasgow und …”
Die ganze Geschichte sprudelte nur so aus ihm heraus. Wie seine Mutter als Bedienstete in diesem Haus gearbeitet hatte, nachdem sie ihre Familie in Dalbeattie verlassen hatte. Später, als sie krank geworden war, hatte sie den Grund für ihr Fortgehen gebeichtet. Sie fühlte sich für das Feuer verantwortlich, das ihrem Sohn die Narben zugefügt hatte. Belinda Chisholm konnte mit dieser Schuld nicht leben. Sie hatte jeden Penny ihres Verdienstes gespart, und als sie an den Folgen eines Gallenfieberanfalls starb, hatte man das Geld an die Familie gesandt, um dem Sohn eine gute Erziehung zu sichern.
“Ich habe mich immer gefragt, wie mein Vater es sich leisten konnte, mich auf eine Schule in Edinburgh zu schicken”, endete Harris. “Hätte er mir doch nur die Wahrheit erzählt, woher das Geld kam. Ich weiß, er war verbittert, dass sie fortgezogen ist, selbst nach all den Jahren.”
Das also hatte Harris so verändert. Jenny ergriff seine Hand. “Habe ich es dir nicht gesagt? Es musste so gewesen sein. Oh Harris, ich bin so froh, dass du endlich die Wahrheit erfahren hast.”
Sie machte den halbherzigen Versuch, ihre Hand zurückzuziehen, doch er hielt sie fest.
“Das ändert alles, Jenny.”
“Was meinst du damit?”
Das Licht der Fackeln tanzte auf seinem Gesicht, das sie so lieb gewonnen hatte. Leidenschaftlich betete Jenny darum, dass Harris überzeugende Gründe finden könnte, damit sie bei ihm bliebe. Doch ihr Herz schmerzte in der Gewissheit, dass er es nicht tun würde.
War es ein hoffnungsvoller Schimmer, der in Jennys Augen leuchtete?, fragte sich Harris, als er sich bemühte, den Mut aufzubringen, um zu sprechen. Er hatte ihr versprochen und sich selbst geschworen, keinen Gedanken daran zu verschwenden, ihr Herz doch noch zu erobern. Ja, er hatte sogar versucht, jedes Mädchen, das ihm einen Blick zuwarf, zu betören. Er hatte Gefallen an der Tändelei gefunden, doch irgendwie hatte er sich dabei leer gefühlt.
Selbst als er Morag McGregor zu einem Tanz überredet hatte, war ihm bewusst geworden, dass das gemeinsame Band, ihre Narben, keine Grundlage für tiefere Gefühle war.
Jenny hatte ihn gefragt, wie die Wahrheit über seine Mutter etwas verändern konnte. Harris war sich selbst nicht sicher. Er wusste
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