Die schottische Braut
dem Wasser des Lebens überflossen, war Jenny bereit zu glauben, dass nichts zwischen Mann und Frau mehr zählt als Liebe.
Liebe?
Romantische Liebe war eine vorübergehende Verzauberung. Alles schien dabei wundervoll und erfüllbar zu sein.
Jenny schluchzte.
Im betörenden Zauber der Nacht hatte sie den Kopf verloren. Jetzt, bei Tageslicht, hatte sie ihn wieder gefunden. Und wie sehr schmerzte er!
Jenny bemerkte, dass sich noch jemand anders regte und blickte um sich. Mehrere Frauen hatten damit begonnen, die Überreste des Bacchanals zu beseitigen. Träge, unsichere Bewegungen verrieten den Zustand ihrer Köpfe und Bäuche, doch die Hausarbeit musste verrichtet werden.
Das Hochzeitsfest war einer jener willkommenen Anlässe, die sie gelegentlich von der Mühsal ihres Lebens ablenkten. Die übrige Zeit musste das Los für die Frauen in diesem Land erbärmlich und zermürbend sein.
Jenny kämpfte gegen den Schmerz und die Benommenheit und stand auf. Verdammt wollte sie sein, wenn sie so leben würde, wie ihre Mutter es getan hatte. Nicht einmal für jene Gefühle, die sie für Harris Chisholm empfand. Sie war aus Schottland geflohen, um solch einem Schicksal zu entgehen, und sie würde sich nicht in ein Netz von Zukunftsträumen verstricken, wenn die Rettung so nahe war.
Einst hatte sie Roderick Douglas glühend verehrt. Wenn sie ihn wiedersah, würde das Gefühl sicherlich erneut aufleben. Oder nicht?
Jenny warf einen letzten, bedauernden Blick auf Harris und machte sich daran, ihr Kleiderbündel aus einem der Nebengebäude zu holen.
“Wo geht es nach Chatham?”, fragte sie mit belegter Stimme eine Frau.
“Dort”, kam die Antwort, die von einem müden Nicken in die entsprechende Richtung begleitet war.
Jenny musste auf ihrem Weg über mehrere Menschen steigen, die alle noch durch die Nachwirkungen des Gelages im tiefen Schlummer lagen. Bei jedem Schritt schmerzte ihr Kopf, und ihr Magen rebellierte, doch es kümmerte sie nicht.
Fünf Meilen noch, dann war sie in Chatham. Noch fünf Meilen, dann war sie bei Roderick Douglas, einem Mann, der ihr ein höchst angenehmes Leben bieten konnte.
Harris erwachte mit der grausamen Gewissheit, dass Jenny fort war. Zuerst nährte er die vage Hoffnung, er könnte sich geirrt haben. Vielleicht half sie bloß den anderen Frauen dabei, die Spuren des Festes zu beseitigen. Als die Zeit verstrich und er sie nirgendwo entdecken konnte, spürte er eisige Kälte in sich hochsteigen.
Er ging zu Morag McGregor. “Hast du Jenny Lennox gesehen?” erkundigte er sich, ohne vorher zu grüßen.
Kühl blickte Morag ihn an. “Heute Morgen?”
“Ja, heute Morgen”, fuhr er sie an. Er hatte weder die Zeit noch war er in der Stimmung für Wortklaubereien. “Ich weiß sehr gut, wo sie letzte Nacht war.”
“Das weiß ich auch, doch es war ein seltsamer Platz für ein Mädchen, das einem anderen versprochen ist.”
Sein Gesicht lief rot an. “Ich denke, ein Mädchen hat das Recht, seine Meinung zu ändern bis zu dem Augenblick, wo sie das Gelöbnis leistet.”
Morag zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen. “Möglich”, sagte sie. “Es geht mich auch nichts an. Ich habe Miss Lennox seit letzter Nacht nicht gesehen, doch ich werde mich umhören, ob jemand etwas weiß.”
Harris sah, wie sie zu einer der Frauen trat. Nachdem sie einige Worte gewechselt hatten, schüttelte die andere den Kopf. Morag wandte sich an jemand anders.
Harris nahm einen Whiskykrug von einem der Tische und schüttelte ihn. Ein schwaches Plätschern deutete an, dass noch etwas von dem Gebräu darin war. Er riss sich zusammen und nahm rasch einen kräftigen Schluck. Obwohl er beim Trinken immer Zurückhaltung an den Tag legte, kannte er Burschen, die auf die heilende Kraft von Alkohol gegen die Nachwirkungen schworen.
Als Morag zurückkehrte, warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. “Nan Cameron hat vor wenigen Minuten mit Miss Lennox gesprochen. Sie ist auf dem Weg nach Chatham, wie sie sagte.”
Harris sprang auf. “Nicht, ohne zuerst einige Dinge zu erklären.”
Schwerfällig tappte er in die Richtung, die Morag wies. In seinem Kopf hämmerte es. Seine Augen schmerzten im grellen Sonnenlicht und wehrten sich dagegen, ihren Dienst zu verrichten. Sein Magen drohte mit jedem Schritt, den er tat, sich zu entleeren.
Er verscheuchte jeden Gedanken daran. Jenny hatte ihm viel zu erklären, und das war in diesem Moment von größerer Bedeutung. Auf dem Pfad vor sich erspähte er sie
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