Die schottische Braut
“Nur schade, dass ich meinen Grundsätzen nicht treu geblieben bin.”
Morag wich trotz seines Ausbruches nicht zurück. Der mitfühlende Ausdruck in ihrem Gesicht ließ ihre Züge sanfter aussehen. Früher hätte er sich davon abgestoßen gefühlt. Nun beruhigte ihr Mitleid seine Seele wie eine heilende Arznei.
“Warum musste sie gehen?”, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten. Unsicher, ob er über Jenny sprach oder seine Mutter … oder beide.
“Ich weiß es nicht. Gewiss hatte sie ihre Gründe. Du sagtest selbst – ein Mädchen hat das Recht, seine Meinung zu ändern. Das gilt für dich genauso wie für den Mann, dem sie versprochen ist.”
Widerstrebend gab Harris die Richtigkeit dieses Urteils zu. Ihm war klar, dass Jenny zwischen ihnen beiden hin- und hergerissen war. Was konnte er ihr schon bieten im Vergleich zu einem Mann wie Roderick Douglas? Wenn er sie wirklich liebte, war es vielleicht das Beste, sie das erhoffte Leben genießen zu lassen mit dem Mann, den sie schon lange verehrte.
Harris war so sehr in seine melancholischen Gedanken versunken, dass er sich erst jetzt bewusst wurde, dass Morag ihm eine Frage gestellt hatte. “Was sagtest du?”
“Der Mann, dem Miss Lennox versprochen ist – ich habe nach seinem Namen gefragt. Vielleicht kenne ich ihn.”
“Gewiss kennst du ihn.” Harris seufzte. “Jenny wird keinen Geringeren als Mr Roderick Douglas heiraten.”
Harris machte sich darauf gefasst, eine abfällige Bemerkung über Jennys Wahl zu hören. Stattdessen folgte seiner Äußerung eine seltsame, unnatürliche Ruhe.
Als er Morag anblickte, sah er, dass alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. Die schrecklichen Narben auf ihrer Wange traten nun wieder deutlicher hervor.
“Was ist mit dir, Morag? Fühlst du dich nicht wohl? Soll ich jemand holen?”
Ehe er sich regen konnte, packte sie sein Handgelenk. Harris zuckte zusammen. Ihr kräftiger, Axt schwingender Vater hätte fest zudrücken müssen, um solche Kräfte anzuwenden.
“Du musst ihr folgen.”
“Ich habe mit ihr nichts mehr zu schaffen. Sie hat ihre Wahl getroffen.”
“Du
musst
ihr folgen!” wiederholte Morag hartnäckig.
“Ja, ja. Ich werde gehen.” Er war bereit, alles zu versprechen, nur damit sie ihren eisernen Griff lockerte. “Wenn du mir nur sagen würdest, warum?” Obwohl er sie noch nicht lange kannte, spürte er, dass Morag diese Forderung nicht leichtfertig ausgesprochen hatte.
Gehetzt blickte sie ihn mit ihren grünen Augen an. “Ich kann es nicht sagen”, wisperte sie. “Ich wage es nicht.”
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. In welche Gefahr hatte sich Jenny diesmal gebracht? War sie davon angezogen wie Motten vom Licht? Schuldgefühle plagten ihn. Welche Gefahr auch immer ihr drohte,
er
hatte es zu verantworten.
“Um mein Wohl und um deines”, fuhr Morag fort, “und besonders um ihres, geh nach Chatham und bewahre Miss Lennox davor, Roderick Douglas zu heiraten.”
Es war die sonderbare Eindringlichkeit, mit der Morag zu ihm gesprochen hatte, die Harris aufspringen ließ, um doch wieder Jenny Lennox zu folgen. Dies, die Last seiner Schuld und seine verrückte Ergebenheit für sie.
Mit einem raschen Blick über die Schulter, als fürchtete sie, verfolgt zu werden, pochte Jenny an die Tür von Roderick Douglas’ Haus. Zumindest hatte man ihr dieses Backsteingebäude als solches bezeichnet. Man hatte ihr seltsame Blicke zugeworfen, als sie sich nach der Richtung erkundigt hatte. Wahrscheinlich hatte man sich gefragt, was solch ein ungepflegtes Wesen von einem wohlhabenden Bürger dieser Gemeinde wollte. Vielleicht hatte man sich auch gewundert, dass ihre Augen rot und verschwollen waren.
Jennys Kehle war wie zugeschnürt, als sie an Harris dachte. Fast schon war sie bereit gewesen, den Traum, sich mit Roderick Douglas zu vermählen, aufzugeben, ihre ganzen Zukunftspläne zu begraben und bei ihm zu bleiben. Doch er hatte deutlich gemacht, dass er sie nicht mochte. Er hatte nicht einmal versucht zu verstehen, dass sie genauso um ihn wie um sich selbst besorgt war. War er nicht nach Amerika gekommen, um etwas aus sich zu machen? Wie konnte er das jemals erreichen, mit einer Frau, die er ernähren musste?
Die Tür wurde geöffnet, und eine große, hagere Frau blickte Jenny finster an. Sie war von Kopf bis Fuß in ein rostbraunes Gewand gekleidet, das zu ihrem streng hochgesteckten Haar passte. Sie hatte eine scharfe, spitze Nase und dunkle, dichte
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