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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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ausgestreckten Beinen an einem Müllcontainer. Beide Arme verschwanden hinter dem Oberkörper und waren vermutlich gefesselt, was wir allerdings erst mit Sicherheit sagen konnten, wenn wir ihn umgedreht hatten. Davon waren wir noch weit entfernt. Von der Taille abwärts war er nackt. Seine mageren Waden und Oberschenkel zeigten noch nichts vom Muskelzuwachs der Pubertät. Seine Genitalien steckten zum Teil zwischen seinen Oberschenkeln und waren nur halb sichtbar, schienen aber auf den ersten Blick unverletzt zu sein. Die unteren drei Knöpfe eines kurzärmeligen Jeans-Hemds waren geöffnet, als hätte der Mörder vorgehabt, es ihm auszuziehen.
    Aber es gab keine Anzeichen für hastiges Herunterreißen der Kleidung wie fehlende Knöpfe oder geplatzte Nähte. »Scheint beim Ausziehen ziemlich sorgfältig vorgegangen zu sein.« Nun, ein Knopf fehlte. Immerhin.
    »Ritualistisch. Sehr organisiert.«
    Eine Spur getrockneten Bluts lief von irgendwo unter dem Hemd in seine Leiste. Ich streifte mir einen Gummihandschuh über die rechte Hand und hob das Hemd an. Mitten auf dem Bauch befand sich eine glattrandige Messerwunde, aus der ein kleines Stück Darm herausquoll, ähnlich wie bei einem Leistenbruch.
    Ich konzentrierte mich auf den Körper, bis ich Docs ruhige Stimme hörte. »Schauen Sie sich sein Gesicht an«, sagte er.
    Natürlich würde er dorthin zuerst schauen, die Stelle, wo sich die Gefühle zeigen. Ich ließ das Hemd sinken und betrachtete Earl Jacksons makelloses Gesicht. Darauf sah ich, was vermutlich seine letzte Empfindung gewesen war: Entsetzen. Nacktes, unverhülltes Entsetzen.
    Wie mochte er sich nur gefühlt haben, dieser Zwölfjährige, der, an einen Müllcontainer gelehnt, zusehen musste, wie ein Messer in seinen Körper eindrang. »Können Sie sich vorstellen …«
    »Nein«, sagte Doc. »Kann ich nicht.«
    Ich ließ den Blick vom Gesicht zum Halsbereich wandern, was mich aus der Umklammerung der Trauer löste und wieder Empörung in mir aufwallen ließ, ein viel produktiverer Gemütszustand. Das Gewebe unter dem Kinn war geschwollen und verfärbt.
    »Sieht aus wie Strangulierung«, sagte ich. »Die Stichwunde ist nicht so schlimm.«
    »Sein Mund ist offen«, hörte ich Erkinnen sagen. »Weit und rund. Er schrie. Sie dürfte schlimm genug gewesen sein, um diesen Ausdruck zu verursachen.«
    »Na ja, hat wahrscheinlich verdammt wehgetan. Aber sie hat ihn nicht getötet.«
    »Er schrie. Das sehe ich seinem Gesicht an.«
    Es war ohne Bedeutung. Nur zwei Menschen wussten, was Earls letzte Äußerung war – er selbst und sein Mörder.
    Ich stand auf und ging zu einem der Streifenwagen. Während ich die Handschuhe auszog, fragte ich: »Wer hat ihn gefunden?«
    »Ich.« Der Polizist, der mir antwortete, wirkte sehr jung. Seinem aschfahlen Gesicht nach zu urteilen, war es seine erste echte Leiche.
    »Wie haben Sie ihn gefunden?«
    »Ich war eben bei einer Routinekontrolle«, sagte er. »Wenn ich nicht zu einem konkreten Einsatz gerufen werde, muss ich dieses Gelände zweimal am Tag kontrollieren. Die Morgenrunde hatte ich wegen eines häuslichen Zwischenfalls verpasst«, sagte er und senkte den Kopf. »O Gott, hoffentlich ist es nicht gerade dann passiert …«
    »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich. »Das Blut ist ziemlich trocken. Er ist wahrscheinlich schon die ganze Nacht tot.« Das war nur eine Vermutung; der Leichenbeschauer würde das präziser sagen können. »Wann war Ihre letzte Runde vor dieser?«
    »Gestern Abend. Ich hatte mit einem der anderen Jungs die Nachtschicht getauscht und kam so gegen 22:30 hier durch.«
    »Irgendwas Ungewöhnliches gesehen?«
    »Nein. Es war ruhig. Aber ich habe nur sehr schnell kontrolliert, weil ziemlich viel los war. Normalerweise mache ich das ein bisschen gründlicher.« Er seufzte schwer, dieses Was, wenn würde er noch lange mit sich herumschleppen.
    Ich notierte mir den Namen auf seinem Brustschild. »Ich melde mich wegen der Aussage bei Ihnen«, sagte ich. Er nickte ernst.
    Später stellte der Leichenbeschauer fest, dass der Tod am späten Abend des vergangenen Tages eingetreten sein musste.
    »Halb elf oder elf«, sagte er mir. »Und diese Messerwunde rührt nicht von einem heftigen Zustechen her. Der Schnitt war sehr sauber und klinisch.«
    »Was ist mit dem Darm? Das sieht für mich nicht sauber aus.«
    »Ich glaube, der Mörder war gerade dabei, ihn herauszuziehen. Es gibt Anzeichen, dass er die Wunde aufgespreizt hat. Es wurde wahrscheinlich ziemlich langsam

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