Die Schreckenskammer
sagte er. »Er ist doch mein Sohn.«
»Okay«, sagte ich, »aber dann müssen Sie sich in den Wartebereich setzen. Ich verspreche Ihnen, ich sage Ihnen sofort Bescheid, sobald sich irgendetwas ergibt.«
Als die Tür hinter ihm zuging, klingelte das Telefon.
Spence nahm den Anruf entgegen, bevor ich zum Hörer greifen konnte.
»Durands Boy hat das Haus in seinem eigenen Auto verlassen«, sagte er mir. »Hat das Garagentor geöffnet, ist herausgefahren, und hat es wieder geschlossen.«
»Na dann, anhalten und das Auto durchsuchen.« Ich schrie beinahe.
Escobar legte mir die Hand auf den Arm, um mich zu besänftigen. »Und falls wir in dem Auto was finden, hätten wir dann einen hinreichenden Verdacht, der die Durchsuchung rechtfertigte?«
Mit einer verbockten Durchsuchung konnten wir alles aufs Spiel setzen; das war schon so oft passiert. »Dann verfolgt ihn«, flüsterte ich. »Aber verliert ihn um Himmels willen nicht.«
Ich wandte mich wieder an Escobar. »Er verlässt das Haus so gut wie nie. Nur ganz, ganz selten. Oft haben wir ihn tagelang nicht vor der Tür gesehen.«
»Lany, beruhig dich. Es ist der Boy. Ist wahrscheinlich nur Milch holen gefahren.«
»Aber er hat doch heute Morgen eine Lieferung bekommen. Der Transporter des Lebensmittelhändlers fuhr vor, erinnerst du dich?«
»Vielleicht hat er was vergessen.«
»Wir sollten die Jungs vor dem Studio anrufen und ihnen sagen, sie sollen nach ihm Ausschau halten.«
Genau das tat Escobar nun. Er gab ihnen eine Beschreibung des Autos und des Boys.
Ich hörte ihn sagen: Eins dreiundsiebzig bis eins fünfundsiebzig groß, weiß oder hellhäutiger Hispanier, schlanke Statur …
»Scheiße«, hörte ich mich flüstern. »Moment mal.«
Dann schnitt Escobars Stimme durch den Nebel meiner langsamen Erkenntnis. »Sie sagen, dass jemand, auf den die Beschreibung passt, kurz vor Schichtwechsel von dort wegfuhr. Lieferte Lebensmittel und ging dann wieder.«
31
Am Freitag, dem 14. Oktober, wurde keine Gerichtssitzung abgehalten. Außerhalb der Mauern unseres Klosters, das wir mit einer Unmenge seltener und unwillkommener grüner Gebilde teilten, die mit der Feuchtigkeit kamen und gingen, spannte sich ein endlos blauer Oktoberhimmel mit einigen hohen, dicken Wolken von der Art, die vorüberziehen, ohne auch nur einen Tropfen Regen zu vergießen, und dennoch mit ihrer Schönheit die Augen benetzen. Ich hielt in meinem hastigen Gang über den Hof inne, um das Gesicht zum Himmel zu erheben; die Wärme liebkoste meine Haut wie Gottes Fingerspitzen. Mit einer Hand nahm ich Haube und Schleier ab und ließ die Sonne auch meine Haare berühren. Niemand in der Menge beachtete mich, als ich barhäuptig weiterging. Wieder einmal hatte sich eine Menschenschar um einen Ausrufer versammelt, wieder wurde ein reißerischer, ausgeschmückter Bericht vorgetragen, diesmal von Gilles de Rais’ Exkommunikation. Ich blieb stehen und lauschte. Knochen, sagte der Mann. Und Schädel. Man habe noch mehr Schädel gefunden. Neunundvierzig Schädel waren in der tags zuvor verlesenen Anklageschrift erwähnt worden, aber die hatte man angeblich zerstört. Damals war mir das als unvorstellbar hohe Zahl vorgekommen, und jetzt hieß es, es gebe noch mehr. Auch seien sie mitnichten zerstört.
Seine Tür stand offen, als ich sein Zimmer betrat; ich hatte meine Röcke nicht gerafft, und deshalb verriet ihm ihr Rascheln auf dem Teppich mein Eintreten.
»Ah, Guillemette …«
Mein Rechenschaftsbericht über die Ausgaben des Klosters war überfällig, und deshalb hatte ich ihn in aller Frühe hastig zusammengestellt. Ich warf ihn vor ihm auf den Tisch. Er schrak überrascht hoch.
»Ist es wahr?«, fragte ich ungehalten. »Wurden in Champtocé noch weitere Knochen und Schädel gefunden?«
Er antworte nicht sofort, stattdessen starrte er mich mit großer Neugier an. »Euer Haar ist unbedeckt.«
»Das war der Wind«, sagte ich. »Nun, was ist mit diesem Gerücht über Knochen und Schädel? Die Leute auf dem Platz reden von kaum etwas anderem. Entspricht es der Wahrheit?«
Zuerst sagte er nichts, doch dann nickte er. »In seinen Privatgemächern in Champtocé und Machecoul wurden einige gefunden. Gut versteckt und von seinen Komplizen in ihrer Hast wahrscheinlich vergessen. Aber nur einige wenige – bei weitem nicht genug, um alle Vermissten zu erklären. Man fragt sich, wie viele zuvor schon beiseite geschafft wurden.«
»Ich will sie sehen.«
»Nein«, erwiderte Jean de Malestroit
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