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Die Schreckenskammer

Titel: Die Schreckenskammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Benson
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ohne das geringste Zögern, »das kann ich nicht zulassen. Meine Stellung als Richter in diesem Verfahren würde durch eine solch unrechtmäßige Behandlung von Beweismitteln beschädigt.«
    »Ist diese Stellung Euch wichtiger als der unauslöschliche Schmerz in meinem Herzen?«
    »Indem Ihr diese Frage stellt, nutzt Ihr Eure Stellung bei mir auf ungerechtfertigte Weise aus. Ich bin überrascht, Schwester, das hätte ich von Euch nicht erwartet.«
    Verletzt und verwirrt zog ich mich zurück. Nach dieser seiner letzten Erklärung gab es nichts mehr zu sagen. Ich war einer Sünde schuldig, gleichgültig, was ich tat. Deshalb sah ich keinen Grund mehr, davon Abstand zu nehmen, tatsächlich eine zu begehen.
     
    Ich kehrte in meine Kammer zurück und zog die Truhe mit den Überbleibseln meines früheren Lebens unter dem Bett hervor. Die Kleider waren längst aus der Mode und mit Stockflecken übersät; ich hätte kein einziges mehr tragen können. So würde ich mir woanders etwas besorgen müssen, doch innerhalb der Klostermauern konnte ich mir nichts beschaffen, ohne beträchtlichen Argwohn zu erregen.
    Die Lager waren noch größer geworden, da die Nachricht vom Prozess sich immer weiter verbreitete. Die Umgebung von Nantes bestand nicht mehr nur aus Ackerland und Bäumen mit dem gelegentlichen kleinen Haus dazwischen, sondern war jetzt ein Wald aus Zelten und Behelfshütten, in dem die Menschen vom Land zusammenströmten. Ich fand Madame le Barbier in einem der saubereren Teile des Lagers; sie bereitete sich gerade eine Stärkung zu – Käse und ein Becher mit blassem Hippokras –, als ich sie aufsuchte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie mich ohne Schleier erkannte. Aber dann leuchtete ihr Gesicht auf, was mein Herz erfreute.
    Sie verbeugte sich leicht. »Mutter Guillemette, wie schön, Euch wieder zu sehen.«
    » Et vous, Madame.«
    »Kommt, setzt Euch zu mir. Bitte« – sie reichte mir ihren Käse –, »nehmt einen Bissen.«
    Ich war nicht sonderlich hungrig, aber ihr Angebot abzulehnen schien mir eine Beleidigung zu sein. Also brach ich ein kleines Stück ab und gab ihr den Rest zurück.
    Verschwunden waren der abgezehrte Ausdruck und das schäbige Gewand; sie sah viel frischer und kräftiger aus. Obwohl ich sie um ihre Genesung beneidete, sagte ich: »Ihr scheint bei guter Gesundheit und guten Mutes zu sein, Madame. Das wärmt mir das Herz.«
    »Ich bin sehr zufrieden, dass dieser Prozess endlich stattfindet – es hatte ja so lange gedauert, so lange! Meinen Sohn wird es mir nicht zurückbringen – das weiß ich nur zu gut. Aber es wird der Gerechtigkeit Genüge getan. Und darin werde ich Frieden finden.«
    Frieden. Erst als sie das Wort ausgesprochen hatte, erkannte ich, wie sehr ich mich danach sehnte.
    Nachdenklich kauend betrachtete sie mich. »Ihr habt Euren Schleier verloren, wie ich sehe.«
    »Ja.« Vor ihr würde ich mich nicht auf den Wind herausreden müssen. »Für den Augenblick. Und das ist der Grund, warum ich Euch aufgesucht habe.«
     
    Daraufhin stöberte sie in den Truhen, die sie mitgebracht hatte, warf sich Röcke und Leibchen und Kleider über die Schulter, als wären sie Lumpen und nicht die kostbaren Juwelen, die sie für jemanden darstellten, der ihrer so lange hatte entbehren müssen wie ich. Ich hatte all diese Dinge nicht wirklich freiwillig aufgegeben, und jetzt erweckten sie in mir einen schmerzenden, kaum beschreibbaren Durst. Erstaunt stand ich da, während sie mir zuerst ein Kleid und dann ein zweites zur Begutachtung hinhielt – erhöhte es mein natürliches Aussehen, oder lenkte es davon ab? Passte der Schnitt zu meiner Figur? Ich hatte ganz vergessen, dass ich eine Figur hatte, der durch die Form dessen, was ich darüberzog, geschmeichelt werden konnte.
    Als ich ihr Zelt verließ, trug ich noch immer meinen Umhang, doch darunter nicht mehr mein formloses Ordensgewand. Stattdessen trug ich ein gewöhnliches Kleid aus einem blauen, ungemusterten Stoff. Ich sehnte mich nach einem Spiegel, in dem ich mich hätte betrachten können, denn für mich war dieses schlichte Gewand eine prächtige Robe.
    So aber schaffte ich es so gut wie unbemerkt durch die Menge. Die Rebellion, die ich unternahm, meine Sünde des Ungehorsams, war unter meinem Umhang gut versteckt.
    Entschlossen zog ich meinen Schleier wieder hervor und setzte ihn auf. Das Gewicht war schier unerträglich, doch ich ertrug es stumm. Ich durchmaß den Palast mit so zielstrebigen Schritten, dass niemand es gewagt

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