Die Schrift an der Wand
dem Fenster. »In meinem Beruf …
Sie war immer ein liebes Mädchen. In den letzten Jahren hat es
in der Schule mal ein bißchen Ärger gegeben, aber das war
nicht, ich glaube nicht, daß es schlimmer war als das, was alle
durchmachen. Sie verlieren die Lust, wissen Sie? Wenn die
Schule selbst es nicht schafft, ihr Interesse wachzuhalten, wie
sollen wir Eltern es dann schaffen?«
»Aber – Sie haben sich doch informiert?«
»Um ehrlich zu sein, Veum, die Kinder, um die hat Sidsel sich
gekümmert. Ich habe für den Lebensunterhalt gesorgt und die
großen, praktischen Entscheidungen getroffen.«
»Äh, die großen?«
Er sah mich irritiert an. »Ja, wie den Kauf des Hauses, das
Ökonomische generell, die Reise nach Disneyland, solche
Dinge. Aber alles, was mit dem Zuhause sonst, ich meine, all
das Häusliche und damit auch die Kinder, das war Sidsels
Verantwortungsbereich. Irgendeine Aufteilung muß es ja geben,
oder?«
»Doch, schon, aber …«
»Kommen Sie jetzt bloß nicht mit der Geschlechterrollenmoral, denn wir waren uns über diese Verteilung selbstverständlich
beide einig. Und kommen Sie mir auch nicht mit vernachlässigten Kindern, denn Torild hat mehr Aufmerksamkeit bekommen
als viele andere. Sehen Sie sich doch um, Veum! Schauen Sie
sich die Alleinerziehenden an, wieviel Zeit haben die für ihre
Kinder?«
»Manche Kinder brauchen vielleicht mehr Aufmerksamkeit.«
»Torild nicht.«
»Nein?«
»Es lief in der Schule einigermaßen gut. Sie hatte reichlich
Hobbys, spielte Handball, war bei den Pfadfindern.«
»Damit hat sie doch aufgehört, oder?«
»Klar, aber noch bis vor einem Jahr, oder nicht?«
»Doch? Also warum glauben Sie, ist sie weggelaufen?«
Er hob ratlos die Hände. »Was weiß man eigentlich von seinen
Kindern?«
»Eben.«
»Wahrscheinlich ist sie im Rebellieralter. Vielleicht hat sie
sich mit ihrer Mutter gestritten – die kann ganz schön anstrengend sein, kann ich Ihnen sagen. Sie wissen, wie Kinder sind,
und vielleicht insbesondere Mädchen.«
»Woran denken Sie da?«
»In dem Alter, Veum? Sie sind sensibler, oder?«
Im Übungsraum auf der anderen Straßenseite hatte die Ballettfraktion das Training für heute beendet. Jetzt standen einige der
Teilnehmerinnen in kleinen Trauben herum und redeten,
während andere schon auf dem Weg in die Garderobe waren.
Ich holte meinen Blick wieder zurück. »Also Sie meinen mit
anderen Worten, daß ihr Wegbleiben einfach das Ergebnis eines
pubertären Aufbegehrens ist?«
»Ja.« Er betrachtete mich reserviert. »Und natürlich der Situation innerhalb der Familie, ja, Sie sind im Bilde, vermute ich.«
»Ich weiß, daß Sie von Ihrer Frau getrennt sind, ja.«
»Das war natürlich nicht gerade hilfreich.«
»Nein. Was sagt die Polizei?«
»Na ja, Sie wissen, wieviel die sagen. Solange keine formelle
Vermißtenmeldung ergangen ist.«
»Mit wem haben Sie denn gesprochen?«
»Tja, ich weiß nicht, ob ich Lust habe, Ihnen gegenüber meine
Beziehungen offenzulegen.«
»Haben Sie Angst, daß ich mit ihnen weglaufen könnte?«
»Es sind jedenfalls Leute auf höchster Ebene, Veum.«
»Ach. Mit anderen Worten, mehr haben Sie mir nicht zu
erzählen?«
»Mir fällt jedenfalls nichts ein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Und ihre Freundinnen?«
»Na ja, ich … Außer Åsa, ja; mit der war sie schon von klein
auf zusammen.«
»Ja, das habe ich gehört. Kennen Sie eine namens Astrid?«
»Nein, nicht soweit ich mich erinnern kann.«
»Tja, dann werde ich Sie nicht länger aufhalten.« Ich stand
auf.
Er brachte mich zur Tür. »Sie halten mich nicht auf, Veum!
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich mache mir genauso große
Sorgen wie Sidsel wegen Torilds Verschwinden.«
Genauso große? dachte ich.
»Aber ich … das ist nicht mein Gebiet, verstehen Sie, ich kann
nicht … da ist so vieles andere, was ich … Und es geht doch
meistens gut, oder nicht?«
»Doch, das tut es meistens.«
»Wer … Ich meine, hat denn Sidsel genug Geld dafür? Ich
meine, Ihr Honorar …«
»Ja.«
»Ja, denn wenn nicht … Ich werde mit ihr reden. Keine Sorge,
Veum.«
»Das, Skagestøl, ist sozusagen gerade meine geringste Sorge.«
»So?« Wir blieben vor dem Fahrstuhl stehen. »Tja, dann –
dann viel Glück. Und wenn noch etwas sein sollte, dann melden
Sie sich nur ruhig wieder!«
»Danke schön.«
Noch ein schnelles Lächeln, und dann war er wieder auf dem
Weg zurück zu seinem Büro, noch bevor der Fahrstuhl hielt.
Als ich auf die Straße hinaustrat, fiel mir
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