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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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und dann plötzlich – sollen sie nicht mehr dasein!«
Sie sah ängstlich auf die Uhr. »Man kann es sich ganz einfach
nicht vorstellen, glaube ich, bevor es einem selbst widerfährt. –
Den beiden muß fürchterlich zumute sein. Ich hoffe nur …«
»Was?«
»Daß der Schuldige gefunden wird, natürlich!«
»Ja, klar. – Åsa hat nie Namen genannt von diesen Freunden
von Torild?«
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Nicht, daß ich mich entsinnen
könnte.«
Mit schweren Bewegungen begleitete sie mich nach unten und
hinaus.
Ganz oben im Birkelundsbakken kam mir ein weißer Mercedes entgegen. Hinter dem Steuer erkannte ich schemenhaft
Trond Furubø. Neben ihm saß Åsa.
Einen Augenblick überlegte ich, ob ich umkehren und hinter
ihnen herfahren sollte, aber ich beschloß schnell, daß die
Familie kaum für einen weiteren Besuch eines Mannes bereit
war, der streng genommen nichts mehr mit der Angelegenheit
zu tun hatte. Statt dessen bog ich nach rechts ab, in Richtung
Sædal.
25
    Die Trauer stand Sidsel Skagestøl gut. Ihr Gesicht zeigte eine
Art abgeklärter Schönheit, und auf eine Weise schien sie größer
geworden zu sein, wie um aufgerichtet dem scharfen Gegenwind
zu trotzen.
Ich folgte ihr in das große Wohnzimmer.
     
Dort war es eigenartig still. Weder das Radio noch andere
    Geräte liefen, und das Haus lag so weit abseits von den großen
Verkehrsadern, daß nicht einmal ein fernes Dröhnen heraufdrang. Es war, als hätte sie sich vorgenommen, sich in der
unerwarteten Situation durch nichts stören zu lassen.
    Fast fühlte ich mich unangenehm berührt, als der pflaumenfarbene Ledersessel knarrte, als ich mich hineinsetzte, während sie
sich auf die gegenüberliegende Seite eines kleinen rundes
Tisches setzte, in dessen Mitte eine ziselierte Messingplatte mit
hieroglyphenähnlichem Muster eingelassen war.
    Sidsel Skagestøl trug ein graumeliertes, langärmeliges Oberteil
und eine schwarze, weite Hose. Mit einem kurzen Seitenblick
nahm sie eine Zigarette vom Rand eines Aschenbechers, prüfte,
ob sie noch am Leben war, und sog dann den Rauch so langsam
ein, bis ihr Blick die gleiche Farbe zu bekommen schien.
    Mit einem traurigen Lächeln sagte sie: »Wir glauben, wir
haben sie für immer. Aber wir müssen einsehen, daß das nicht
stimmt.«
    »Nein.«
»Es ist etwas Besonderes mit der Ältesten. Sie war die einzige
– eine Weile. Ich erinnere mich noch … Ich stand an ihrem Bett
    und betrachtete sie im Schlaf. Stand da und horchte auf ihren
Atem. Sah das kleine Bündel unter der Decke mit den Pu-derBär-Figuren.« Sie wurde etwas nachdrücklicher. »So unschuldig! So unberührt von allem! Und jetzt, sechzehn Jahre später,
sitze ich hier, und sie … sie ist …« Sie machte eine vage
Bewegung mit der Hand, in der sie die Zigarette hielt, so daß der
Rauch eine Art Kreis in die Luft malte, als befände sich ihre
Tochter irgendwo im Raum, für uns unsichtbar, aber doch
anwesend.
    »Das müssen schreckliche Tage gewesen sein. Ich meine, noch
schrecklichere vielleicht wegen der Presseartikel.«
Sie betrachtete mich mit eigentümlich abwesendem Blick »Oh,
das – Es war wohl schlimmer für Holger. Ich selbst habe das
alles irgendwie ausgesperrt. Aber Holger …«
»Er nahm es schwerer?«
»Als der erste Artikel erschien, ich weiß nicht, ob Sie ihn
gesehen haben, der mit dem Foto … Er fing an zu weinen.
Schlicht und einfach zu weinen. Das hatte ich nicht mehr
gesehen seit dem Tod seines Vaters, und das ist fast zwanzig
Jahre her. Nicht einmal über Torild hatte er weinen können, aber
der Artikel, der wühlte ihn so auf, daß … Hinterher sprach er
davon, vor Gericht zu gehen, und dann setzte er mich einfach in
ein Taxi und fuhr selbst weg – zur Zeitung, nehme ich an. Als er
zurückkam, war er grau im Gesicht. Er sah zehn Jahre älter aus,
als ob die Reaktion bei ihm erst da eingetreten wäre.«
»Wo ist er jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wieder bei der Arbeit. Bei der
Polizei. Ich weiß es nicht.«
»Aber er hat sich angeboten, Ihnen zu helfen, ich meine, in
diesen Tagen …«
»Er hat angeboten, hier zu schlafen, ja. Aber wozu sollte das
gut sein? Es ist vorbei, so oder so.«
»Definitiv?«
Sie nickte stumm, beugte sich vor und schnippte die Asche
von der Zigarette.
»Sonst kann eine Situation wie diese ja oft etwas bewegen in –
in solchen Konflikten.«
»Nicht bei uns.«
Es war nicht der richtige Tag, um zu fragen, warum. Außerdem ging es mich

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