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Die Schrift an der Wand

Die Schrift an der Wand

Titel: Die Schrift an der Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Kontakt aufzunehmen, nicht einmal, um ein wenig wohlklingende Begräbnismusik zu spielen.
Ich öffnete die Schublade, in der der Brief mit der selbstgemachten Todesanzeige lag. Noch einmal drehte ich den
Umschlag herum und sah auf die Rückseite, als sei der Name
des Absenders mit unsichtbarer Tinte geschrieben und würde
erst nach ein paar Tagen hervortreten.
Der Brief war in Bergen abgestempelt, am 17. Februar. Wenn
ich ihn zur Polizei mitnehmen und sie bitten würde, ihn näher zu
untersuchen, fänden sich vielleicht Fingerabdrücke darauf.
Meine, die des Briefträgers und die des- oder derjenigen, die den
Brief auf dem Postweg berührt hatten. Ob sie auch noch einen
letzten, bis jetzt unbekannten Fingerabdruck finden würden,
davon war ich gar nicht so überzeugt.
Mit einem Schulterzucken legte ich den Brief wieder in die
Schublade zurück.
In der Schublade darunter lag die Flasche.
Ich nahm sie heraus, schraubte den Verschluß ab, hielt die
Flasche an die Nase und sog den unvergleichlichen Duft von
Anis und Kümmel ein.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, stand auf, ging
zum Waschbecken und holte das Wasserglas, kehrte zurück und
schenkte mir ein paar Fingerbreit vom Wasser des Lebens ein.
›Hat der zum Tode Verurteilte noch einen letzten Wunsch?‹
›Ein letztes Glas, Herr Henker.‹
›Genehmigt.‹ (Gluck-gluck)
›Dann trinke ich auf alle, die noch am Leben sind auf dieser
Erde, ich trinke auf die Kinder, die weiterleben werden, und auf
die Erwachsenen, die so lange durchgehalten haben, ich trinke
auf Pfarrer und Heizer, Präsidenten und Installateure; auf alle,
die …‹
›Es war die Rede von einem Glas, nicht von einer Vorlesung.‹
›Oh, ich bitte …‹ (Gluck-gluck)
Der Rest ist Gerissenheit. Selig sind die Einfältigen, denn auf
Erden kriegen sie es dicke. Den Sieg tragen die Skrupellosen
davon.
Ich stellte das Glas wieder hin, mit einem heftigen Knall.
Genauso heftig, wie Sidsel Skagestøl die Tür zum Rest ihres
Lebens für mich verschlossen hatte. Genauso heftig, wie jemand
ihre Tochter aus dem Boden gerissen hatte, in den sie gepflanzt
worden war, und sie als Jagdtrophäe aufgehängt hatte, irgendwo
auf der Rückseite eines Sterns, nach dem man bis zum Jüngsten
Gericht suchen konnte, ohne daß man ihn finden würde.
Genauso heftig, wie sie einen Brief mit falscher Anschrift
stempeln: ›Empfänger unbekannt‹.
Ich rief Karin an.
»Hast du heute abend was auf dem Programm?« fragte sie.
»Um elf Uhr muß ich auf eine Hurenkundendemonstration.«
Als sie nicht sofort etwas sagte, fügte ich hinzu: »Ich meine
natürlich eine Demonstration gegen …«
»Das dachte ich mir.«
»Ich muß eine Frau treffen, die wahrscheinlich etwas weiß
über den Fall, an dem ich – na ja, den, zu dem ich gerade ein
paar Nachforschungen anstelle. Vielleicht könntest du mitkommen?«
»Ist das dein Ernst?«
»Du weißt, daß ich es nicht mag, dich in die praktische Seite
meines Broterwerbs hineinzuziehen, aber – es könnte ihnen
vielleicht leichter fallen, mit mir zu sprechen, wenn du dabei
wärst.«
»Gehen wir vorher essen?«
Ich schob das Glas endgültig zur Seite. »Selbstverständlich.
Wann treffen wir uns?«
Wir verabredeten eine Zeit.
Bevor ich das Büro verließ, rief Sigrun Søvik an. Ihre Stimme
klang zögernd und unsicher, als sei sie sich nicht sicher, ob sie
das Richtige täte.
»Wenn Sie vorhaben, mich für die Pfadfinderbewegung zu
werben, dann sind Sie ganz schön spät dran«, versuchte ich,
einen leichteren Ton anzuschlagen.
Es gelang mir nicht. Mit hohler Stimme sagte sie: »Es geht um
die beiden Mädchen.«
»Ja? Torild und Åsa …«
»Ja, mir ist da was eingefallen, das ich vielleicht – das Sie
vielleicht wissen sollten, aber ich möchte nicht noch mehr Salz
in die Wunden streuen, der Familie, meine ich, deshalb …«
»Wollen Sie es mir jetzt erzählen?«
»Wir könnten uns morgen irgendwann treffen, bei einer Tasse
Kaffee?« sagte sie schnell.
»Ja, warum nicht?«
Wir verabredeten Zeit und Ort, sie legte auf und ich notierte
mir das Ganze.
›Allzeit bereit‹, hieß es nicht so? Aber zu was? Vielleicht war
das die Frage. Bereit zu sein – oder nicht?
Ich schüttelte die spekulativen Gedanken ärgerlich ab und
verschloß die Tür sehr sorgsam, als ich mich auf den Weg
machte, um mit meiner Freundin vom Einwohnermeldeamt zu
Abend zu essen.

27
    Die Ostseite von Nordnes war bei weitem nicht der wärmste Ort,
an dem man einen schon von

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