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Die Schrift in Flammen

Titel: Die Schrift in Flammen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Miklós Bánffy
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spüren.
    »Muss man jetzt gleich mit den Höflichkeitsbesuchen beginnen?«, fragte Bálint, nachdem sie etwa hundert Schritte zurückgelegt hatten. »Könnten wir zuvor nicht ein wenig spazieren? Das Wetter ist so herrlich!«
    Adrienne willigte ein.
    »Wissen Sie, wo wir hinsollten?«, sagte sie. »Gehen wir auf den Házsongárd hinauf. Dort ist die Aussicht wunderbar. Ich gehe oft allein dort hinauf.«
    So nannte man in Klausenburg den Friedhof. Der Name des Berghangs hatte einst auf Deutsch wohl Hasengarten gelautet, daraus war die ungewöhnliche Bezeichnung entstanden. Sie zogen los. Eine sehr steile Straße mit Kopfsteinpflaster führte hinauf. Grabsteine in großer Zahl säumten den Weg, die Grabplatten einstiger Stadtbürger, hier und dort eine Gruft, die Ruhestätte vermögender Familien. Das Gras grünte schon am Rand der in einem tiefen Einschnitt verlaufenden Straße, der Hahnenfuß bestreute die Böschung mit winzigen rosafarbenen Sternchen, der Hasenlattich gab gelbe Tupfer dazu, und all dies wirkte üppig und reich, als sprösse neues Leben aus den jahrhundertealten Gräbern – fruchtbarer wuchernd als in den Gärten. Auf der anstrengenden Steigung hinauf unterhielten sie sich wenig. Schließlich kamen sie oben am Rand des Friedhofs an. Ein scharfer Wind wehte, aber sie setzten sich trotzdem auf einen kleinen Hügel.
    Die Aussicht hier war tatsächlich wundervoll. Unten die unzähligen Ziegeldächer der Häuser. Die alten Festungsmauern, in der Stadt selber kaum zu bemerken, ließen sich von da gut verfolgen: wie sie sich in dem oder jenem Hof hinten versteckten, mancherorts unterbrochen wurden und verschwanden, um dann wieder zum Vorschein zu kommen und die Linie der alten Befestigungen mitsamt der einen oder anderen Bastei nachzuzeichnen. Die Sonne vergoldete alles. Der Turm von St. Michael wirkte stofflos leicht, die Fassade der Kirche in der Farkas-Straße bildete ein glänzendes Dreieck, und der Hügel drüben, den man großsprecherisch Zitadelle nannte, zerriss das Bild in zwei Teile, indem er sich zwischen die blau verblassenden Einschnitte des Nádas-Bachs und des Szamos-Tals hineinlehnte. Eine endlose Schönheit bot sich dar, so weit das Auge reichte – hinauf bis zu den violetten Schatten der Schneeberge von Gyalu oder hinunter, über die gelben Kurven des angeschwollenen Flusses hinweg, nach Norden und Nordosten, wo der Tarcsa-Hügel sich ins Tal legte. Die Frühlingszeit hatte eine dünne grüne Staubschicht auf die gegenüberliegenden Weiden gehaucht. Schäfchenwolken schwammen dem schwach kobaltblauen Zenit zu, als hätte auch der Himmel seine Herde auf die Weide getrieben, seine winzigen, weißen, perlenklaren Lämmer, die er nun oben in langen, weit ausgedehnten Reihen an unsichtbarer Leine führte.
    »Nicht wahr, es ist hier wunderbar?«, fragte Addy.
    Bálint antwortete nicht. Eine Weile betrachtete er noch die Landschaft.
    Er drehte den Kopf auch hernach nicht, als er sprach. Scherzhaft sagte er: »Ich habe über Sie lange nachgedacht, Addy, und eine große Entdeckung gemacht.«
    »Und zwar?«, fragte die Frau.
    »Ich bin draufgekommen, dass Sie in Wirklichkeit eine gefährliche Schwindlerin sind.«
    »Tatsächlich? Ein Kompliment dieser Art habe ich noch nie bekommen«, lachte Adrienne.
    »Doch, es ist so. Sie sprechen über Liebesthemen, als ob Sie eine Kennerin wären. Dabei haben Sie keine Ahnung! Es gibt solche Professoren«, fuhr er fort und lachte dabei ein wenig, um seiner Rede die Spitze zu nehmen, »die das Meer, Eisberge oder den Urwald beschreiben, obwohl sie ihren Arbeitsraum zwischen vier Wänden noch nie verlassen haben. Sie haben alles nur aus Büchern gelernt. Mit Ihnen steht es ähnlich. Und das ist äußerst gefährlich – für andere. Sehr irreführend. Und dies umso mehr, als Ihr Mund, Ihre Augen, Ihr schwarzes Haar, alles zu diesem Schwindel beiträgt. Alles lügt und gibt vor, dass Sie … eine Frau sind – obwohl das nicht stimmt. Denn Sie sind ein höchst unkundiges kleines Mädchen, das ahnungslos nichts von dem weiß, worüber es spricht, und alles ist falsch, was es vorspiegelt. So stelle ich mir die griechischen Sphinxe vor, die müssen so halb Frauen und halb … halb … Ungeheuer gewesen sein, ›un monstre‹, so im französischen Sinn. Eine merkwürdige Sphinx, die auf ihre eigene Frage die Antwort nicht weiß. Und die ist für den modernen Wandersmann viel gefährlicher!«
    Adriennes Elfenbeinhaut rötete sich langsam. Niemand hatte ihren Mangel

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