Die Schrift in Flammen
wie vor dem Eintreffen des Telegramms. Irgendwie gelang es nicht. Ein Schleier hatte sich auf ihre Laune gelegt. Adrienne allein kannte den Inhalt des Telegramms, aber es wirkte auf alle bedrückend. Zuletzt, als es auf die Mittagszeit zuging, kehrten sie beinahe düster zum Herrenhaus zurück.
Die Gesellschaft saß auf der Veranda beim schwarzen Kaffee. Das Wetter war herrlich. Sonnenschein brach hier und dort durch das dichte Laub der Wildtrauben und streute überallhin winzige Lichtpünktchen, die auf dem Tischtuch, den Stühlen und dem schattenbedeckten Boden glänzten wie nachts die Glühwürmer. Hier und dort spielten Büschel von Rebenlaub schon ins Rötliche. Fiel Sonnenschein darauf, dann leuchtete es wie Glut.
Adrienne berührte Bálint an der Schulter. »Kommen Sie!« Und sie stiegen hinunter in den Garten. Sie führte ihn ein weites Stück. Unterwegs wechselten sie kein Wort. Dann erreichten sie das Ende des Gartens. Eine einfache, vor Alter schon violett gewordene Bretterbank stand dort am Rand des Hügels. Sie setzten sich. »Das ist mein Lieblingsplatz. Als Kind bin ich immer hierher geflohen.«
Die Aussicht, die sich von hier aus eröffnete, war in der Tat wunderbar. Der Blick fiel nicht auf eine wildromantische Landschaft, wie man sie gewöhnlich schön nennt. Dies hier war keine »Ansichtskarten«-Angelegenheit mit Felsen, Wäldern und in den Himmel ragenden Gipfeln, es war ganz anders. Dieses Land mochte in seiner Kargheit dem Fremden seltsam, vielleicht sogar hässlich erscheinen. Und doch war es erfüllt von großartiger Pracht. Sanft gekrümmte Umrisse baumloser Berge reihten sich hintereinander auf. Unzählige Hügelrücken, so weit das Auge reichte, beinahe alle mit derselben gebogenen Linie.
Die Bergkanten zeichneten sich übereinander ab, jede um eine Spur dunkler, sie spielten immer stärker ins Blau, je entfernter sie lagen; doch ob in der Nähe oder in der Weite, der aus den unsichtbaren Tälern aufsteigende Dunst ließ alle Hänge verblassen, und nur der Grat leuchtete klar. Noch, noch, noch mehr Berge, könnte ich sagen im Takt der Musik. Es war Frühherbst. Das Heugras – so nennt man dort die Magerwiesen – war schon sonnenverbrannt. Was näher lag, schien grünlich gelb, und alles entfärbte sich mit der Entfernung und nahm eine graue Schattierung an. Bei diesem Übergang wurde die Helligkeit mit jeder Stufe stärker, sodass die letzten Wellenreihen, die sich vor dem Horizont erhoben, schon wie der Himmel mattblau glänzten; dass sie Berge waren, keine Wolken, erkannte man nur an ihrer Reglosigkeit. Als wäre es der Wellenschlag eines riesigen Ozeans, den der Zauber heidnischer Götter erstarren ließ. Und so wie die Gischt auf dem Meer die wellengepeitschte Oberfläche zuweilen unterbricht, so hatten hier Bergrutsche und Hangrinnen da und dort kleine Kegel geschaffen, verworrene Mäander gezeichnet und safrangelbe, ungleichförmige Klüfte herausgebrochen, die sich nun dem Auge im alles auflösenden dürren Dunst darboten. An den kargsten Stellen wuchs Marienflachs – als läge dort bereits silberner Schnee. Alles kündete von einer traumverlorenen, doch mächtigen Ruhe. Alles lag weit entfernt, war endlos stets das Gleiche und in dem und jenem doch wieder anders. Da ragte ein Hügel einsam heraus, rund wie ein Brotlaib, während der nächste spitz einem Zeltdach glich. Einer der Höhenzüge verlief von dieser Stelle steil nach unten, um dann wieder scharf emporzusteigen, ein anderer senkte sich kaum, bis er dann jäh zu den bläulichen Bergrücken, seinen Brüdern, hinabfiel. Der Heide-See lag im tiefen Tal. Noch war das Schilf tiefgrün, beinahe schwarz. Wasser zeigte sich dunkel, wo im Röhricht eine Lücke klaffte. Wildenten kritzelten diamantene V-Zeichen in seine sich spiegelnde Oberfläche.
Und Stille, eine unfassbare Stille.
Ein aufgegebener Friedhof lag unmittelbar vor der Bank. Einige altertümliche, geschnitzte Grabscheite ragten aus den wuchernden Brennnesseln hervor. Es mochte einst, bevor die Gemeinde ausstarb, ein calvinistischer Friedhof gewesen sein. Weiter unten, auf einer kleinen Erhebung, erblickte man Mauerreste. Vielleicht war dort vor langer Zeit eine Kirche gestanden.
Adrienne saß unbeweglich da, die Beine gekreuzt, das Kinn auf die rechte Hand gestützt. Sie sah vor sich hin und blieb lange stumm. Zuletzt nahm sie das Telegramm hervor und reichte es ihrem Nachbarn.
»Kommen Sie sofort nach Hause – Uzdy.« Dies war alles.
Bálint blickte die
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