Die Schrift in Flammen
wie wenn das Knattern des dahinrasenden Zugs ihn verhöhnte. Stets von neuem vergegenwärtigte er sich die jüngsten Geschehnisse. Nach jener Sitzung am 18. November, an der Tisza die Verschärfung der Hausordnung putschartig durchgesetzt hatte, versammelte sich das Abgeordnetenhaus lange nicht mehr. Inzwischen freilich kursierten in der Stadt unzählige Gerüchte. Es waren unkontrollierbare, bösartige Klatschgeschichten, in denen jeden Tag andere, als »völlig sicher« geltende Dinge behauptet wurden. An einem Tag hieß es, der Vorsitzende der Kammer habe seinen Rücktritt erklärt; tags darauf sagte man, er danke keineswegs ab, er organisiere vielmehr eine Leibgarde, die er dazu brauche, die Deputierten hinauszuwerfen. Man erzählte sich, dass er einen Schlaganfall erlitten habe, dass er in Fechthallen Übungen absolviere, das heißt sich auf Duelle vorbereite, man sprach dies und das und hunderterlei. Auch über die Regierung waren zahllose Nachrichten im Umlauf. Tisza sei nach Wien gefahren, er trete ab, Tisza sei zurückgekommen, kämpferischer denn je.
Die Oppositionspresse äußerte sich tobend vor Wut, die jeden Tag zunahm. Das Faktum, dass die Regierung eingestanden hatte, tatsächlich Verbotenes getan zu haben, und dass sie sich damit verteidigte, sie habe dies – ein einziges Mal! – im Interesse des Landes tun müssen, diese Erklärung war natürlich Wasser auf die Mühlen der Opposition. Nie zuvor war gegen einen ungarischen Ministerpräsidenten ein solcher Ton angeschlagen worden. Die fraglichen Blätter taten sich mit Beleidigungen, Angriffen und Grobheiten umso mehr hervor, als sie vielleicht danach suchten, das lahme Benehmen vergessen zu lassen, das ihre Abgeordneten zuletzt im November an der fraglichen Sitzung gezeigt hatten. Die Leitartikel, die Miklós Bartha mit künstlerischer Feder verfasste, waren die grausamsten. Bálint wäre gern sachlich geblieben, doch wenn er einen dieser Artikel las, vermochte er sich gegen die glänzende Beweisführung und die maßlosen, aber markigen Worte kaum zu verteidigen. Auch jetzt hörte er aus dem Dröhnen und Rattern des Zugs den Ruf des einen oder anderen harten, empörenden Satzes heraus.
Die Blätter, die Andrássy nahestanden, verhielten sich vorerst noch gemäßigter. In schönen, theoretischen Abhandlungen setzten sie auseinander, dass Gewalt, selbst berechtigte Gewalt, nicht zur Rechtsschöpfung führen könne; dass je öfter die neue Hausordnung angewandt werde, es umso öfter zur Rechtsverletzung komme; und dass auf diese Weise eine ganze Pyramide aus lauter Rechtsbrüchen erbaut werde. Nur eine neue Regierung könne Befreiung bringen. Tisza solle abdanken, sein Kopf sei der Preis dafür, dass das neue Kabinett die neue – an sich sehr wohl nützliche und wünschenswerte – Hausordnung legalisiere. Diese zwiespältige Argumentation schielte mit einem Auge auf die Opposition und mit dem anderen auf den alten König.
Der gleiche Ton beherrschte das Nationalcasino, ein zu jener Zeit wichtiges politisches Zentrum. Die zu Tiszas Partei gehörenden Mitglieder waren nach und nach weggeblieben. Wer dort erschien, gehörte beinahe ausnahmslos zur Fraktion Andrássys oder zur gemäßigten Opposition und zur katholischen Volkspartei.
Hier und dort steckten die führenden Politiker die Köpfe zusammen. Leise und lang berieten sie in einer Ecke des Deák-Zimmers und im dunklen Billardraum, dann gingen sie wortlos auseinander. Die junge Garde war umso lauter. Abgeordnete oder solche, die es werden wollten, warfen mit gewaltigen staatsrechtlichen und patriotischen Phrasen um sich. Vielleicht am lautesten unter ihnen lärmte Frédi Wuelffenstein, der unter heftigem Stampfen verkündete, dass sein ungarisches Blut eine solche Verletzung der Verfassung nicht dulde, nicht dulden könne. Und wenn ihm jemand auch nur im Geringsten widersprach, dann machte er daraus gleich eine Ehrensache.
Bálint war in diesem Kreis in den letzten zwei Wochen jeden Abend erschienen. Gemäß seiner Natur strebte er nach Unparteilichkeit. Die ausschließlich oppositionelle Atmosphäre, in der er sich bewegte, und die haarscharf formulierten verfassungsrechtlichen Einzelheiten, die er täglich zu hören bekam, übten auf ihn trotzdem Einfluss aus. Bálint hatte während der Zeit der Obstruktion innerlich stets den Nachhall seiner Auslandserfahrungen vernommen und auch den verächtlichen Ton gehört, in dem Fremde über das ungarische Parlament zu sprechen pflegten; er neigte
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