Die Schuldlosen (German Edition)
doch. Das ist genau die Art von Beschäftigung, die sie braucht. Mit Mama Brötchen schmieren, Teilchen verkaufen und frühzeitig ins Geschäftsleben hineinschnuppern, damit sie später weiß, worauf es ankommt. Dann kann ich sie auch hier hinter die Theke stellen.»
«Ich hab hier auch hinter der Theke gestanden, kaum dass ich eine Hefeschnecke von einem Marzipanhörnchen unterscheiden konnte», sagte Heike. «Hat mir das etwa geschadet?»
«Das möchte ich nicht beurteilen», erwiderte Gerhild. «Die Zeiten sind ja zum Glück auch vorbei. Jetzt ist Kinderarbeit in unserem Land verboten. Wenn du Saskia etwas kaufen willst, schenk ihr ein billiges Handy. Ruf sie hin und wieder an und frag, wie es ihr geht, wie es in der Schule war und so weiter. Sag ihr, dass du sie liebhast und stolz auf sie bist, dass du gerne mehr Zeit mit ihr verbringen möchtest und sie schrecklich vermisst. All das hat Alex ihr gesagt. Leg ihr deine Nummer ins Kurzwahlverzeichnis, damit sie dich jederzeit anrufen kann, wenn sie Probleme hat. Herrgott, Wolfgang und ich haben auch nicht viel Zeit für unsere Jungs, aber wir waren immer da, immer erreichbar, immer ansprechbar. Du hast damals einfach dichtgemacht und sie hier abgeliefert wie eine Schachtel mit alten Fotos. Tut mir leid, Heike, aber das muss mal gesagt werden.»
Gegen halb zehn verabschiedete Heike sich wieder. Bis dahin hatte Gerhild noch eine Menge mehr gesagt. Als ob sich in wenigen Stunden die Versäumnisse von Jahren aufzählen ließen. Heike brummte der Schädel von all den Vorhaltungen und Ratschlägen für die Zukunft. So gut gemeint und berechtigt die auch sein mochten, sie knüppeldick zu servieren, nachdem es vorher nicht mal ein vorwurfsvolles Wort gegeben hatte, war kaum die richtige Methode.
Zurück in das zwölfstöckige Hochhaus an der Ludwig-Uhland-Straße kam Heike kurz vor zehn. Als sie in die Tiefgarage fuhr, löste ein Spannungsgefühl zwischen den Schulterblättern den Groll auf Gerhild ab. Aber es huschte niemand hinter ihrem Honda die Rampe hinunter. Es legte ihr nach dem Aussteigen auch keiner die Hände um den Hals, der sich vorher eingeschlichen hätte. Sie kam unbehelligt ins Kellergeschoss, rief den Aufzug hinunter und ließ sich nach oben tragen.
Ihre Wohnungstür lag dem Aufzugsschacht direkt gegenüber. Es waren nur fünf oder sechs Schritte, die sie ohnehin gehen musste, um die Flurbeleuchtung einzuschalten. Neben dem Aufzug gab es nämlich keinen Lichtschalter.
Wie meist verzichtete Heike darauf, den Schalter neben ihrer Tür zu betätigen. Solange niemand in einem anderen Stockwerk aufs Knöpfchen drückte, blieb die Schiebetür in der Kabine offen, und das Licht reichte, um den Schlüssel einzustecken. Sie schloss auf und sah es sofort. Im diffusen Restlicht aus dem Aufzug glaubte sie im allerersten Augenblick, ihr Essplatz sei voller Blut. Erst als sich die Innentür der Kabine schloss und sie reflexartig auf den Lichtschalter in ihrer Diele drückte, erkannte sie, dass es die Rosen waren.
Die hatten in den vergangenen Stunden nicht etwa sämtliche Blätter verloren, was bei einem derart billigen Strauß nicht einmal großartig hätte verwundern dürfen. Sie ließen auch nicht schon ihre Köpfe hängen. Die Blumen waren geköpft worden.
Dreizehn abgeschnittene Knospen waren in Herzform vor der Vase angeordnet, in der noch vierzehn üppig mit Blattwerk bewachsene Stängel standen. Der fünfzehnte Stängel war quer durch das Herz geschoben und stellte ohne Zweifel einen Pfeil dar. An der nach oben ragenden Schnittfläche waren mehrere Blättchen wie Federbüschel angeordnet, am unteren Stielende lagen zwei als Spitze zusammen. Auf den verbleibenden vier Zentimetern zwischen dieser Spitze und dem Rand der Holzplatte war die vierzehnte Rosenknospe platziert, die letzte lag auf dem Fußboden, als sei sie heruntergetropft .
Ein blutendes Herz oder ein weinendes Herz, auf jeden Fall ein durchbohrtes und somit verletztes Herz. Es hatte fast etwas Romantisches. Nur sah Heike nicht den kleinsten Hauch Romantik. Sie dachte unwillkürlich an den Gebrauchtwagenhändler, der vor fünfzehn Jahren beim Feuchtbiotop seinen Kopf verloren hatte. Vielleicht hatte Alex für sie einen ähnlichen Tod vorgesehen und sie ihm mit dem frühzeitigen Reifenwechsel einen Strich durch diese Rechnung gemacht.
Wem sie das Gemetzel zu verdanken hatte, war für sie keine Frage. Und da nur sie und ihre Familie über Wohnungsschlüssel verfügten, hätte dort genauso gut
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