Die Schuldlosen (German Edition)
sich und aller Welt zu beweisen, dass er sehr wohl zu etwas nütze war. Dass die Nachbarn ihn belächelten, wenn er die Fenster putzte oder die Wäsche zum Trocknen auf den Balkon hängte, störte ihn nicht.
Als Heike im Spätherbst 2002 schwanger wurde, geriet er vollkommen aus dem Häuschen. «Ich werde Vater! Könnt ihr euch das vorstellen, Leute? Ich bekomme ein Kind! Ist das nicht Wahnsinn?»
«Wahnsinn wäre es, wenn tatsächlich du das Kind bekommen würdest», sagte Lothar. «Dann müsste man sich fragen, ob deine Mutter damals für den Zopf, der oben wuchs, unten einen Zipfel abgeschnitten hat.»
Alex funkelte ihn zwar wütend an, aber nur kurz. Dann schlug er ihm kumpelhaft auf die Schulter und sagte mit seinem Lausbubengrinsen: «Ich hab mehr in der Hose als du, das solltest du eigentlich noch wissen, wir haben schließlich früher mehr als einmal nachgemessen und verglichen. Wenn du dich daran nicht mehr erinnerst, frag Silvie, die hat meinen Prügel oft genug in der Hand gehalten, um den Unterschied beurteilen zu können.»
«Wenn Silvie ihn in die Hand nahm, hatte es sich aber bald mit dem Prügel», konterte Lothar. «Dann war es in null Komma nichts ein Schlaffi. Das passiert ihr bei mir nie.»
«Sei doch froh», sagte Alex, aus der Fassung brachte ihn das nicht mehr. «So warst du wenigstens bei ihr der Erste.»
Saskia kam im Mai 2003 auf die Welt. Zwei Monate zu früh, aber fast passend zu seinem eigenen Geburtstag. Natürlich war Alex dabei und anschließend von seiner Tochter kaum wegzubekommen. Frühmorgens fuhr er noch die Brötchen holen und half Heike bis acht, halb neun im Kaffeebüdchen. Aber kaum waren die Berufspendler durch, musste er zu seiner Süßen.
Stundenlang saß er in einem Sessel, die Handvoll Mensch auf der nackten Brust. Während Heike den mittäglichen Ansturm wieder alleine bewältigte, erzählte Alex dem meist schlafenden Baby im Flüsterton irgendwelche Geschichten oder summte Kinderlieder. Und hundertmal am Tag sagte er der Kleinen, dass sie niemals Angst haben müsse, weil er immer für sie da sei.
Natürlich blieb ihm die Babypflege auch überlassen, als er Saskia heimholen durfte. Das tat er allein, Heike war nicht abkömmlich. Sie kümmerte sich wieder wie zuvor alleine um ihr Büdchen, während er die Wohnung und die Wäsche sauber hielt, Saskia wusch und wickelte, Fläschchen gab, weitere Geschichten erzählte und Lieder sang. Er war rund um die Uhr im Einsatz für sein Kind.
Es war alles in Ordnung – auch bei Lothar und Silvie. Wie ihre Großmutter schon mehr als einmal festgestellt hatte, konnte eine anfänglich nicht so große Liebe mit der Zeit wachsen, sodass es irgendwann eine wirklich große Liebe war.
Silvie hatte sich nach dem Abitur zu einer Ausbildung als Altenpflegerin entschlossen und darüber nicht mit sich reden lassen, sosehr Franziska und Gottfried sich auch bemüht hatten, ihr einen besser bezahlten und weniger aufreibenden Beruf schmackhaft zu machen. Inzwischen war sie mit der Ausbildung fertig, und Lothar freute sich mit ihr, dass sie im Grevinger Seniorenheim bleiben konnte. Da hatte er doch als Zivi gearbeitet, kannte sich noch aus. Die Atmosphäre sei herzlich, erzählte er Franziska. Silvie hätte es nicht weit zur Arbeit und könnte später garantiert problemlos wieder stundenweise arbeiten. Lothar wollte selbstverständlich auch Kinder – so ein oder zwei Jahre nach der Hochzeit.
Es war wirklich alles bestens. Bis zu dem unseligen Osterwochenende, an dem Janice Heckler diese Welt verließ.
Grevingen-Garsdorf, im April 2004
Seit Jahresbeginn stand fest, dass Helene Junggeburt der Appetit nicht von einer äußerst hartnäckigen Gastritis vergällt wurde, wie sie es Alex monatelang weisgemacht hatte. Diesmal hatte Helene wirklich Krebs. Primärtumor im Magen, Metastasen im Darm, in Lunge und Leber, die Lymphe befallen. Nichts mehr zu machen. Helene wollte auch nichts mehr machen lassen. Sie war vierundsiebzig und hatte genug vom Leben, wollte nur noch ihre Ruhe, bei ihrer geliebten Tochter und den Eltern auf dem Friedhof liegen, nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr fühlen.
Anfang April gaben die Ärzte ihr nur noch wenige Wochen. Sie war daheim, wurde von einer Krankenpflegerin betreut wie nach Alexas Tod. Um den Haushalt kümmerte sich eine Frau aus dem Dorf, die auch die Wäsche machte und kochte, aber nicht im Haus lebte wie die Haushälterinnen vergangener Zeiten.
Alex besuchte seine Mutter jeden Tag. Weil
Weitere Kostenlose Bücher