Die Schuldlosen (German Edition)
tänzelnden Burschen zu fixieren. Wahrscheinlich sah er nicht mehr, wie viele das tatsächlich waren.
Sie fuchtelten alle drei mit ihren Fäusten herum, als gelte es, einen Schwergewichtsboxer herauszufordern. «Jetzt komm schon, du feige Sau», meinte einer: «Zeig mal, wie viel Mumm du hast, wenn du gegen Männer antreten sollst.»
«Langsam, Männer», beschwichtigte Lothar. «Ihr wollt euch doch nicht wirklich an einem armen Schwein vergreifen, das nicht mehr geradeaus gucken kann. Wie soll er denn treffen, wenn er jeden von euch doppelt sieht?»
«Das Schwein hat sich an der wehrlosen Frau da draußen vergriffen», teilte einer großspurig mit.
«Im Ernst?», erkundigte sich Lothar übertrieben skeptisch. «Das kann ich mir ja kaum vorstellen. Es ist nämlich noch keine halbe Stunde her, da wollte die wehrlose Frau sich an ihm vergreifen. Er war aber nicht interessiert und hat das deutlich zum Ausdruck gebracht. Wenn ihr mir nicht glaubt, fragt die Leute, die an unserem Tisch sitzen. Der jüngere der beiden Männer ist Polizist.»
Plötzlich gab es betretene Mienen, zumindest bei den dreien, die vor Alex herumhampelten. Der Kleinste wagte sich näher an ihn heran, schnipste ihm ein unsichtbares Stäubchen vom Ärmel und erklärte: «Sorry, Mann, nix für ungut. Wir konnten ja nicht wissen, wie es wirklich war.»
Janice hatte inzwischen ihr Top wieder gerichtet, zog sich samt Retter in die Gaststube zurück und mischte sich unters Volk, bevor Lothar sie zur Rede stellen konnte. Er war sicher, dass dieser Angriff bloß die Rache einer abgewiesenen Frau gewesen war. Selbst wenn Alex seine Meinung noch geändert hätte und in der Lage gewesen wäre, die Dorfmatratze zu besteigen, hätte er das nicht im Männerklo einer proppenvollen Kneipe getan. Da konnte doch jederzeit einer reinkommen, der es anschließend herumerzählte. Wie lange hätte es wohl gedauert, bis es die Bäckerei Jentsch erreichte, wo Heike es dann umgehend erfahren hätte? Das Risiko wäre Alex niemals eingegangen, dafür lag ihm zu viel an Heike und seinem Nachwuchs.
Lothar wischte seinem Freund mit nassen Papiertüchern das Blut von der Schläfe und versuchte in Erfahrung zu bringen, ob es sich so abgespielt hatte, wie er vermutete.
Aber viel mehr als: «Die hat behauptet, dass Heike fremdgeht und dabei über mich herzieht», erfuhr er nicht. Alex schaute nur noch betrübt an sich herunter und stellte fest: «Meine Hose geht nicht mehr zu.»
Lothar kümmerte sich auch noch um den verklemmten Reißverschluss. Dann führte er ihn zurück zum Tisch und berichtete sicherheitshalber Bernd Leunen, dass Alex von einigen Jungs angegriffen worden war, weil Janice offenbar für ein Missverständnis gesorgt hatte. Und Bernd Leunen riet, bei den Jungs nachzuhaken, ob das Ganze ein abgekartetes Spiel gewesen sei.
Herbst 2010
Verabredet war er mit Saskia wieder um halb drei bei der Schule. Als um Viertel vor zwei der Streifenwagen vor der Villa hielt, saß er noch beim Mittagessen. Keine Pizza diesmal. Er war vormittags beim Discounter gewesen, hatte eingekauft und richtig gekocht, um sich wieder daran zu gewöhnen.
Kartoffelpüree, aber kein Pulver aus einer Tüte, das man nur in heißes Wasser zu rühren brauchte. Er hatte Kartoffeln geschält, gekocht, gestampft, mit Milch und Butter angemacht und mit etwas Muskatnuss abgeschmeckt. Dazu Seelachsfilet, in Mehl, Ei und Semmelbrösel gewendet. Und einen Bohnensalat mit hauchdünnen Zwiebelringen, die sich leicht herausfischen und beiseitelegen ließen, wenn man keine frischen Zwiebeln mochte, weil man noch ein Kind war. Aber er hatte Schalotten genommen, die waren mild. Alles genau so, wie die gute alte Frau Schmitz das in seiner Kindheit gemacht hatte. Ob sich dafür bei Familie Jentsch jemand die Zeit nahm?
Er hätte sie sich genommen in den letzten sechs Jahren, wenn man ihn gelassen hätte. Und er würde sich die Zeit nehmen, wenn man ihn demnächst ließ. Ob er wirklich daran glaubte, dass Saskia in absehbarer Zeit bei ihm leben könnte, wusste er nicht. Er hoffte es, träumte davon. Hoffen und träumen durfte jeder, auch ein Mörder, dem seine Volltrunkenheit als mildernder Umstand angerechnet worden war.
Er hatte bereits darüber nachgedacht, dass es seinem Anliegen dienlicher sein könnte, erst einmal mit Gerhild zu reden statt mit Heike. Schließlich war Gerhild diejenige, die sich um Saskia kümmerte. Vielleicht wäre sie froh, wenn er sie ein wenig entlastete. Es musste ja nicht sofort
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