Die Schule der Nacht
doch nur wüsste, was das alles zu bedeuten hatte. Sie hatte das Gefühl, vor einem unvollständigen Puzzle zu sitzen und keine Chance zu haben, es zu einem brauchbaren Bild zusammenfügen zu können.
»Was ist das denn für ein Haus?«, fragte sie und deutete aus dem Fenster.
»Die alte Zollstation, in der Reisende früher den Wegezoll entrichteten, um die Straße benutzen zu dürfen. Angeblich hat Dick Turpin dort seine Opfer ausgespäht.«
»Den hätten Sie bestimmt gern geschnappt, was?«
»Für ihn wäre es jedenfalls sicher besser gewesen«, sagte Reece. »Entgegen dem, was man sich landläufig so erzählt, wurde Dick Turpin von einem Mitglied seiner eigenen Bande aufgehängt. Ich bin eher ein Anhänger von Resozialisierungsmaßnahmen, von Galgen halte ich nicht besonders viel.«
April betrachtete ihn nachdenklich, während sie durch den Strohhalm von ihrer Cola trank. Sie war sich nicht sicher, was sie von ihm halten sollte, war aber froh, weder in der Schule noch zu Hause sein zu müssen – und ausnahmsweise mal wie eine erwachsene junge Frau behandelt zu werden. Okay, von der Cola light einmal abgesehen, aber die schmeckte immer noch besser als der Tee auf der Polizeistation neulich. Wobei sie natürlich wusste, dass Inspector Reece sie nicht zu einem netten Plauderstündchen hergebracht hatte – es war eher ein mit Getränken und Essen getarntes Verhör.
»Halten Sie es für eine gute Idee, eine Sechzehnjährige in ein Pub mitzunehmen?«, fragte April. »Gehört das zur normalen Verfahrensweise bei Befragungen?«
»Wir haben es hier nicht mit einem normalen Fall zu tun, April«, sagte Reece ernst. »Dafür wirft er zu viele verwirrende Fragen auf. Ich hatte gehofft, dass Sie uns vielleicht Aufschluss über einige Dinge geben könnten, und« – er deutete zur leeren Theke hinüber – »dachte mir, dass wir hier vor unerwünschten Lauschern geschützt wären.«
»Sie glauben, dass es auf der Polizeistation Leute geben könnte, die den Vernehmungsraum abhören?«
Reece lächelte. »Sie sind ein cleveres Mädchen, April, aber Sie sollten keine Verschwörungen sehen, wo keine sind. Überlassen Sie das Ihrer Freundin Caro.«
Diesmal war April diejenige, die lächelte. »Sie haben mit ihr gesprochen?«
Reece stieß einen tiefen Seufzer aus. »Gibt es eigentlich irgendetwas, von dem sie nicht glaubt, es stecke eine Weltverschwörung dahinter?«
»Ich fürchte, nicht. Konnte sie Ihnen denn irgendwie weiterhelfen?«
Der Inspector hielt einen Moment inne. »Ist schon komisch«, sagte er schließlich nachdenklich. »Manchmal hat man bei den Ermittlungen Scheuklappen auf, obwohl man eigentlich um die Ecke denken müsste.«
»Wie meinen Sie das?«
»Nun, die meisten Verbrechen laufen nach einem ziemlich einfachen Muster ab, besonders Gewaltverbrechen. Jemand gerät in Wut, erschlägt jemanden und hinterlässt dann eine Blutspur, die bis zu seinem Wagen zurückzuverfolgen ist – das ist jetzt natürlich sehr vereinfacht ausgedrückt, aber Sie wären überrascht, wie oft es sich genau so abspielt. Das ist auch der Grund dafür, warum die Aufklärungsrate bei Morden höher ist als bei anderen Vergehen.«
April wandte den Blick ab, weil sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und versuchte sich auf ein Bild an der Wand hinter dem Inspector zu konzentrieren.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte er mitfühlend. »Ich vergesse manchmal, wie schwer es für die Betroffenen ist, über diese Dinge zu sprechen. Mord ist mein täglich Brot, und dadurch verliere ich manchmal den Blick von außen.«
»Nein, das ist es nicht.« April blinzelte die Tränen weg. »Es fällt mir nur schwer, mir meinen Vater als Mordopfer vorzustellen. Es fühlt sich einfach so… ich weiß auch nicht… so falsch an.«
»Das verstehe ich. Aber ich kann es Ihnen leider nicht ersparen – wir müssen uns darüber unterhalten. Nur so haben wir eine Chance, den oder die Schuldigen zu finden.« Er sah sie eindringlich an. »Hören Sie, April, ich werde meine Karten offen auf den Tisch legen. Wir haben zwar noch keine stichhaltigen Beweise, aber wir gehen mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass die drei Morde – der an Alix Graves, an Isabelle Davis und Ihrem Vater – in irgendeiner Form zusammenhängen. Mit zweien davon stehen Sie in Verbindung, und in meiner Welt… nun ja, lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich glaube nicht an Zufälle. Deswegen denke ich, dass Sie der Schlüssel zu diesem Fall sein könnten, auch wenn
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