Die Schule der Nacht
dich verlassen.«
Wenigstens Davina schien sich prächtig zu amüsieren. Als April ins Wohnzimmer zurückkehrte, war die Königin der Schlangen, die ein kurzes schwarzes Satinkleid und mörderisch hohe High Heels trug, gerade dabei, mit praktisch sämtlichen männlichen Mitgliedern der Familie Hamilton gleichzeitig zu flirten. Hat sie irgendwie nicht mitbekommen, dass es sich um eine Trauerfeier und nicht um eine Party handelt? , fragte April sich und beobachtete stirnrunzelnd, wie Davina sich an einen ihrer Cousins lehnte und kokett lachte.
»Hey, Darling«, rief sie, als sie April kommen sah, und ihr Gesichtsausdruck wechselte wie auf Knopfdruck von heiter zu besorgt. »Wie geht es dir? Es tut mir so leid für dich.« Sie küsste die Luft neben Aprils Wangen und raunte ihr ins Ohr: »Wer ist dieser Sexgott hinter mir?«
»Ich glaube, einer meiner Cousins, aber genau weiß ich es nicht – ich habe ihn bisher nie persönlich kennengelernt.«
April grübelte immer noch darüber nach, was eigentlich der Grund dafür war. Ihre Mutter hatte ihr oft erzählt, wie sie als Mädchen gezwungen worden war, entsetzlich langweilige Ferien mit ältlichen Tanten und Onkeln zu verbringen, und dass sie sich schon damals geschworen hatte, ihre eigenen Kinder später einmal mit solchen Besuchen zu verschonen. April hatte zwar immer vermutet, dass noch mehr dahinterstecken musste, zumal die Beziehung ihrer Eltern zu ihrem Großvater stets ziemlich angespannt gewesen war, aber trotzdem nie weiter nachgehakt, sondern es einfach so hingenommen. Erst als sie älter geworden war, hatte sie angefangen, sich zu fragen, ob vielleicht irgendeine alte Familienfehde, über die niemand mit ihr sprechen wollte, der Grund dafür war, dass sie nie an großen Familientreffen teilnahmen. Angesichts der Auseinandersetzung zwischen ihrer Mutter und ihrem Großvater vorhin in der Küche schien sie mit dieser Vermutung wohl gar nicht so falschzuliegen.
»Bist du denn nicht mehr mit Jonathon zusammen?«, fragte sie.
Davina runzelte einen Moment lang die Stirn, als versuche sie sich das Gesicht eines entfernten Bekannten in Erinnerung zu rufen. »Ach so, Jonathon… nein, den gibt’s nicht mehr«, sagte sie vage und blickte plötzlich interessiert über Aprils Schulter. »Und wer ist das da? Mein Gott, dieser Hut ist ja ein Traum!«
Bis April sich umgedreht hatte, fingerte Davina bereits an dem Schleier von Fionas Hut herum.
»Ähm… Davina, das ist meine Freundin Fiona aus Edinburgh.«
»Ich bin entzückt«, säuselte Davina und zog eine äußerst verwirrte Fiona mit sich zu einer kleinen Sitzecke, wo sie anfing, wie ein Wasserfall auf sie einzureden. »Also du musst mir unbedingt erzählen, wo man in Edinburgh derart fantastische Vintageteile herbekommt, du musst nämlich wissen, dass…«
April stand einfach nur da und starrte den beiden fassungslos hinterher.
»Tut mir leid, aber so benimmt sie sich immer auf Beerdigungen«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr.
April musste sich nicht umdrehen, sie wusste auch so, dass es Benjamin war. Warum muss er sich ständig so an mich heranschleichen? Er ging um sie herum und reichte ihr ein Glas Wein, woraufhin sie sich nervös im Raum umblickte.
»Keine Sorge.« Benjamin lächelte. »Dein Großvater führt gerade eine hitzige Diskussion mit meinem Vater, und deine Mutter sitzt auf der Treppe und unterhält sich mit dem Falken.«
April sah ihn überrascht an. »Mr Sheldon ist auch hier?«
»Ich weiß genau, was du denkst«, sagte Benjamin und verdrehte die Augen. »Bei unseren Familientreffen ist er auch immer mit von der Partie – und nicht nur er. Meine Mutter unterhält sich gerade in der Küche angeregt mit Miss Holden. Wir hätten genauso gut in der Schule bleiben können.«
April nahm einen kräftigen Schluck von dem Wein und schauderte.
»Mir scheint, den hast du nötig gehabt.« Benjamin strich ihr sanft über den Arm. »Wie geht es dir? Ist bestimmt alles andere als einfach für dich heute.«
April schüttelte den Kopf. »Nein, nein, es geht schon, danke«, antwortete sie zerstreut. Die Worte ihrer Mutter wollten ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wann ist denn dann der richtige Moment, ihr zu sagen, wer ihr Vater wirklich war?
Was hatte sie damit sagen wollen? Dass ihr Vater nicht der Mann gewesen war, für den sie ihn gehalten hatte? Aber er war doch immer ein treu sorgender, hart arbeitender Familienvater gewesen… Oder hatte sie am Ende etwas ganz anderes damit
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