Die Schule der Nacht
sie zu einem Vampir zu machen. Und dieser Meister, von dem er sprach, war nicht irgendein Vampir – er war ihr Anführer, der Vampir-Regent .«
Bei der Erinnerung daran schüttelte Gabriel traurig den Kopf. »Ich wusste, dass Lily niemals damit einverstanden sein würde. Sie war sehr fromm. Aber eines Nachts ging es ihr schlechter denn je. Ich saß an ihrem Bett, tupfte ihr den kalten Schweiß von der Stirn und spürte jeden ihrer Hustenanfälle, jeden Krampf wie Messerstiche in meinem Herzen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Und dann fasste ich den Entschluss, es zu tun.« Er seufzte. »Ich war schwach.«
»Nein, das warst du nicht.« April berührte sanft seine Hand. »Im Gegenteil. Das war ganz schön mutig von dir.«
»Glaubst du, ja? Oder war es vielleicht nur meine Angst, das alles alleine durchstehen zu müssen? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls habe ich meinen Freund schließlich gebeten, mich zu diesem Regenten zu führen. Er residierte in einem herrschaftlichen Haus in der Nähe von Bethnal Green, und sobald ich über die Schwelle getreten war, wusste ich, dass die Gerüchte über Vampire wahr waren. Das Haus war prachtvoll und luxuriös, aber zugleich düster und voller bösartiger Kreaturen. Ich habe das Gesicht des Regenten nie gesehen – bis heute nicht. Er wusste es immer geschickt im Schatten zu verbergen. Er fragte mich nach dem Grund meines Besuches und äußerte sich mitfühlend, als ich ihm von Lilys Krankheit erzählte. Und dann biss er mich.«
»Und was passierte dann?«
»Ich spürte, wie ich starb, musste mich aber zwingen weiterzuleben. Das fühlt sich ungefähr so an, als würde man mit den Fingerspitzen an einer steilen Klippe über einem Abgrund baumeln und sich mit letzter Kraft nach oben ziehen. Es war entsetzlich, einfach nur entsetzlich.« Ihn schauderte.
»Aber du hast es für sie getan – für Lily«, sagte April. »Das ist doch etwas Wunderschönes.«
Gabriel schüttelte den Kopf. »Leider kam alles anders. Ganz anders. Ich wurde reingelegt. Als es vorbei war, lachte der Regent mir ins Gesicht und sagte, dass ich Lily schon selbst wandeln müsse, wenn ich sie retten wolle. Er würde sich nicht den Appetit verderben lassen, indem er in das widerwärtig faulige kranke Fleisch einer Schwindsüchtigen bisse.«
»Aber warum hat er sein Wort nicht gehalten?«
»Es ging um Macht. Vampire lieben die Macht fast genauso sehr wie das Töten. Das Ganze war für ihn ein Spiel, eine Zerstreuung, ein amüsanter kleiner Zeitvertreib. Und dann hat er mich auch noch verhöhnt. Gott, war ich wütend. Ich war so unendlich wütend auf ihn.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Mich mit Klauen und Zähnen auf ihn gestürzt. Überheblich, wie er war, hatte er damit nicht gerechnet. Ich muss ihn wohl auch ziemlich übel erwischt haben, bin aber selbst kaum mit dem Leben davongekommen – seine Wächter jagten mich durch ganz London. Was ich getan hatte, war die größte Dummheit, die ich hätte begehen können, denn anschließend blieb mir nichts anderes übrig, als mit der todkranken Lily vor seinen Häschern zu fliehen. Wir sind allerdings nicht besonders weit gekommen.«
»Was ist aus Lily geworden?«
»Sie starb in meinen Armen. Sie wollte sich nicht wandeln lassen.«
Er wandte April den Kopf zu, und sie streckte instinktiv die Hand nach ihm aus, hielt dann aber zögernd inne. Er war ein Vampir . Ein Mörder. Geboren im Jahr 1870. Schon »normale« Jungs bereiteten ihr Kopfzerbrechen, und es war sicher vernünftiger, sich auf ihn gar nicht erst einzulassen. Also ließ sie die Hand wieder sinken, und nach einer Weile kehrten sie um und schlugen den Weg Richtung Waterloo ein.
»Was hast du dann gemacht?«, fragte April schließlich.
»Nichts. Ich brannte darauf, Rache zu nehmen, aber es gab nur wenig, das ich tun konnte. Sie kannten mich, ich wäre noch nicht einmal mehr in die Nähe des Regenten gekommen. Außerdem war ich körperlich geschwächt. Ein Vampir benötigt Blut, um sich zu stärken, und Lily hatte mich, nachdem ich ihr alles gebeichtet hatte, schwören lassen, dass ich bis auf den Regenten niemals einen Menschen umbringen würde. Glaube mir, April, das ist schwer – das Schwerste, was man von einem Vampir verlangen kann. Unsere Instinkte sind die eines Jägers, eines wilden Tiers, das töten will – töten muss . Sosehr man auch versucht, diesen Trieb zu überwinden, er steckt einfach in einem. Und wenn der Drang zu übermächtig wird, kann ein Vampir ein wahres
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