Die Schule der Nacht
Mordfall. Die wollen sehen, ob du noch irgendwo Blut an dir kleben hast.«
Die Schüler der Ravenwood School besaßen zwar genügend Anstand, um April nicht mit offenem Mund anzugaffen, aber jedes Mal, wenn sie aufblickte, spürte sie, wie sie schnell wegschauten, und bekam mit, wie sie miteinander flüsterten.
»Hör am besten gar nicht auf das, was Caro sagt, Herzchen. Ihre Fantasie geht mal wieder mit ihr durch«, sagte Simon und zwinkerte April zu. »Wahrscheinlich starren sie gar nicht dich an, sondern Caro. Ihre neue Haarfarbe ist aber auch wirklich… faszinierend.«
Caro warf ihm einen vernichtenden Blick zu, und April lächelte. Simon Oliver war so etwas wie Caros bester Freund an der Ravenwood. Die beiden waren schon zusammen zur Grundschule gegangen und hatten als Kinder gemeinsam ihrer Leidenschaft für Barbiepuppen gefrönt oder sich wilde Verkleidungen ausgedacht, aber seit sie in die Pubertät gekommen waren, war ihre Beziehung etwas komplizierter geworden.
»Simon ist eine unglaubliche Diva«, hatte Caro sich am Tag zuvor während des Mittagessens bei ihr beschwert. »Man weiß einfach nie, was er denkt.«
April hatte den Verdacht, dass Caro heimlich – und unglücklich – in Simon verliebt war. Mit seinem hellen Teint, dem lässigen Emo-Look und seiner Belarus-Tour-Shirts-Sammlung passte er genau in Caros Beuteschema. An der Schule ging zwar das Gerücht um, er wäre schwul, aber davon wollte Caro nichts hören. »Simon ist eben eigen«, war ihr Standardspruch. Jedenfalls verstand er es meisterhaft, Caro auf den Boden der Tatsachen herunterzuholen, wenn sie sich in ihre wilden Theorien hineinsteigerte. Hätte er nicht immer wieder vernünftige Gegenargumente angeführt, hätte April Caro wahrscheinlich jedes Wort geglaubt.
»Du denkst doch nicht wirklich, dass sie mich verdächtigen – oder?«, fragte sie ängstlich, aber Caro grinste nur.
» Jeder ist verdächtig«, sagte sie mit hochgezogener Braue. »Besonders die Leute, die über die Leiche« – sie zeichnete mit ihren Mittel- und Zeigefingern Anführungszeichen in die Luft – »›gestolpert‹ sind.«
»Ich bin über gar nichts gestolpert«, widersprach April. »Ich habe die Leiche ja noch nicht mal gesehen.«
»Tja, erzähl das mal den Bullen«, sagte Caro und biss genüsslich in einen Schokoriegel. »Die Statistiken sprechen für sich. Der Hauptverdächtige in einem Mordfall ist immer der Ehemann, gefolgt von demjenigen, der die Leiche gefunden hat. Und du musst zugeben, dass du tatsächlich Blut an den Händen hattest.«
»Ja, aber von einem Fuchs«, korrigierte Simon sie. »Und hättest du April richtig zugehört, wüsstest du, dass nicht sie diejenige war, die die Tote gefunden hat. Jemand anderes hat die Polizei informiert, schon vergessen?«
Caro hob die Hände und zog ein unschuldiges Gesicht. »Hey, mich muss sie nicht überzeugen. Ich nehme dir die Geschichte ab, April, besonders das mit den seltsam glühenden Augen, die dich aus dem Dunkel heraus beobachtet haben.«
April biss sich auf die Unterlippe. Ihr war klar, wie absurd es sich anhören musste, aber sie hatte diese Augen nun mal gesehen – oder hatte sie sich doch bloß alles eingebildet? Sie wusste schon selbst nicht mehr, was sie glauben sollte. Jedenfalls war sie fest entschlossen, bei der nächsten Gelegenheit mit Gabriel Swift zu sprechen. Hatte er die Leiche und möglicherweise sogar den Mörder gesehen? War er am Ende sogar irgendwie in die Sache verwickelt? Ihr war der bestürzte Ausdruck auf den Gesichtern der beiden Polizeibeamten nicht entgangen, als sie ihnen von dem »seltsamen Schatten« erzählt hatte. Und sie konnte ihre Reaktion auch gut nachvollziehen – ein Phantombild ließ sich anhand ihrer Beschreibung nicht gerade anfertigen.
»Ach so, Caro… noch was.« April sah sich verstohlen um und senkte die Stimme. »Du hast mir doch gestern erzählt, du hättest den Verdacht, dass in der Schule irgendetwas Merkwürdiges vor sich geht. Also mein Vater…«
»Ach so, das. Ja… tut mir leid.« Caro warf Simon einen peinlich berührten Blick zu. »Weißt du, ich hab das eher im übertragenen Sinne oder metaphorisch, oder wie immer man das nennen möchte, gemeint. Ähm, das war bloß so ein Gedanke. Du hast ja schon gemerkt, dass ich ein Faible für wilde Theorien hab. Sag deinem Vater lieber nichts davon, sonst hält er mich noch für total verrückt.«
Oder er glaubt dir die Geschichte, dachte April. Sie hätte Caro zwar gern erzählt, was sie
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