Die Schule der Nacht
beugte sich verschwörerisch zu ihr vor. »Wir werden sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.«
Sein Plan war ganz einfach und erwies sich doch als unglaublich wirkungsvoll. Simon hatte die Theorie, dass Klatsch eine Form modernen Goldgräbertums war – die Leute waren ständig auf der Jagd nach neuen Einzelheiten über ein bereits bestehendes Gerücht, und jeder, der mit neuen, saftigen Details aufwarten konnte, hatte sozusagen ein Nugget ausgegraben. Also setzten sie einfach eine neue Version des Gerüchts in Umlauf, und am Ende des Tages glaubte die ganze Schule daran, dass Caros und Aprils Darstellung der Ereignisse die einzig wahre war, nämlich, dass April auf der Party zufällig in die Küche gekommen sei und Marcus Brent dabei erwischt hätte, wie er gerade versuchte, einem seiner Freunde die Hose herunterzuziehen. Das war an sich noch kein besonders großer Skandal – unter den Jungs des Rugbyteams gehörten solche Albernheiten quasi zum Alltag –, aber Simon hatte die Idee gehabt, in ihre Version der Geschichte das Wörtchen »schwul« mit einfließen zu lassen, und damit hatte das Gerücht den nötigen Zündstoff bekommen, um sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Nach Schulschluss waren alle davon überzeugt, dass Marcus Brent und seine Freunde bei der Ausübung einiger der extremsten Sexualpraktiken, die ein Mensch sich nur vorstellen konnte, erwischt worden waren. April war zwar fassungslos, dass die sonst so sittsam wirkenden Schüler der Ravenwood in der Lage waren, sich solche Schweinereien auszudenken, aber gleichzeitig überglücklich darüber, dass die Blicke, die man ihr jetzt zuwarf, eher mitleidig als entrüstet waren.
»Warum hast du mir denn nicht gleich erzählt, was wirklich passiert ist, Schätzchen?«, fragte Davina. April war den Schlangen zufällig auf der Mädchentoilette neben der Cafeteria in die Arme gelaufen, die ihnen anscheinend als eine Art Versammlungsraum diente. »Ich meine, ich wusste ja, dass Marcus es faustdick hinter den Ohren hat, aber so etwas hätte ich ihm niemals zugetraut! Es muss schrecklich für dich gewesen sein.«
»So ein unschuldiges Mädchen wie du«, spottete Layla, »wahrscheinlich hast du einen Schock erlitten, als du gesehen hast, wie Jungs da unten aussehen.«
»Stimmt es denn?«, fragte Chessy begierig. »Hast du wirklich gesehen, wie er es ihm… du weißt schon… mit der Zunge gemacht hat?«
April hatte zu allem bloß den Kopf geschüttelt und ein leises »Darüber möchte ich lieber nicht sprechen« gemurmelt, was nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen hatte.
»Oh Gott, wenn sie noch nicht mal drüber sprechen kann, muss es wirklich widerlich gewesen sein«, hörte sie Chessy zu Davina sagen, als die beiden die Toilette verließen.
Seltsam, wie schnell die Leute bereit sind, die schlimmsten Dinge über andere zu glauben, wunderte April sich, während sie sich im Spiegel betrachtete. Natürlich freute sie sich, dass der Plan so gut aufgegangen war, aber allmählich bekam sie ein schlechtes Gewissen. Marcus und seine Kumpels hatten zwar auch keine Skrupel gehabt, das Gerücht über sie in Umlauf zu bringen, aber irgendwie konnte sie sich nicht so richtig über ihren Erfolg freuen. Ihr machte zusätzlich nämlich noch etwas ganz anderes zu schaffen: Gabriel hatte sich bis jetzt noch nicht gemeldet. Sie hatte gehofft, ihm irgendwann zufällig auf dem Schulflur zu begegnen, aber er schien nie da zu sein. Als sie jetzt so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie ihn nur zweimal in der Schule gesehen hatte – beide Male an ihrem ersten Tag: in der Philosophiestunde und dann noch einmal nach Unterrichtsschluss, als er über den Schulhof geeilt war. Aber vielleicht würde sie ihn ja später auf dem Nachhauseweg treffen. Bei diesem Gedanken begann ihr Herz schneller zu schlagen. Gott, wie müde ich aussehe. Mit den Ringen unter den Augen wird er sich bestimmt nicht in mich verlieben. Unzufrieden betrachtete sie sich im Spiegel, dann stellte sie ihre Tasche auf dem Waschbecken ab und suchte nach ihrem Concealer. Eigentlich war es den Mädchen untersagt, sich in der Schule zu schminken, aber genau wie die meisten anderen Regeln wurde auch diese weitestgehend ignoriert. Außerdem konnte April sich nicht vorstellen, dass einer der Lehrer die Schlangen davon abhalten würde, sich frischen Lipgloss aufzutupfen oder die Wimpern nachzutuschen, was sie manchmal sogar während des Unterrichts machten. Es war erstaunlich, wie viele Freiheiten diese Mädchen
Weitere Kostenlose Bücher