Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
nicht nur eine Niederlage für die Anhänger der Low Church, sondern ich hatte auch den Verdacht, daß dadurch die Entlassung seines Freundes Slattery zu erwarten war.
    Ich hatte es so eilig, in die Bibliothek zu kommen, daß ich aus dem Haus stürzte, bevor Austin hinausgegangen war, und mich hastiger von meinem Freund verabschiedete, als ich es bei näherer Überlegung getan hätte.
    Als ich bei der Bibliothek ankam, war Quitregard gerade dabei, die Tür aufzuschließen. Er begrüßte mich mit einem Lächeln, ließ mich eintreten und sagte: »Ich werde gleich Kaffee aufsetzen, und es wäre mir eine Ehre …«
    »Vielen Dank, aber heute nicht«, gab ich zurück und eilte an ihm vorbei.
    »Aber haben Sie denn schon die Neuigkeiten über Mr. Stonex gehört?« rief er mir nach.
    »Ja, natürlich«, rief ich zurück. »Ich habe gestern fast den ganzen Abend mit der Polizei verbracht.«
    »Ich weiß, Sir, und es tut mir leid, daß Sie und Mr. Fickling in diese Sache hineingezogen wurden.«
    Ich blieb stehen und drehte mich um. »Woher wissen Sie das?«
    »Ach, in dieser Stadt gibt es keine Geheimnisse. Aber ich frage mich, ob Sie wohl auch schon die Neuigkeit dieses Morgens erfahren haben?« Ich schüttelte den Kopf, und er kostete meine Unwissenheit aus, bevor er sagte: »Der Kellner Eddy Perkins wird beschuldigt.«
    »Das überrascht mich nicht im geringsten. Hat er die Tat gestanden?«
    »Nein, das hat er nicht, aber als die Beamten gestern abend sein Haus durchsuchten, haben sie etwas Belastendes gefunden.«
    »Was denn?«
    Er verzog das Gesicht. »Ich weiß es nicht. Aber er hat zugegeben, daß er es aus dem Haus von Mr. Stonex entwendet hat, offenbar konnte er das beim besten Willen nicht abstreiten.«
    »Dann hat er die Tat also doch zugegeben?«
    »Nein, denn er behauptet nach wie vor, daß er mit dem Mord nichts zu tun hat.«
    »Leugnet er immer noch, daß er um halb sechs zum Haus von Mr. Stonex gekommen ist?«
    »Das hat er inzwischen zugegeben, aber nur, weil sich ein Zeuge gemeldet hat, der ihn zu dieser Zeit dort gesehen hat.«
    »Ein Zeuge? Wissen Sie, wer das ist?«
    »Nein, Sir. Aber ist das nicht alles wahnsinnig aufregend?«
    Ich lächelte. »Und trotz all der Beweise, die gegen ihn sprechen, beharrt er immer noch darauf, daß er den alten Herrn nicht umgebracht hat?«
    Quitregard bejahte. »Das klingt ausgesprochen unlogisch. Ich vermute, daß der Mann ziemlich dumm ist.«
    »Dumm – und offensichtlich auch brutal. Welch eine entsetzliche Geschichte! Und was für ein Schock muß das für Sie gewesen sein zu erfahren, daß jemand, mit dem Sie erst ein oder zwei Stunden zuvor zusammengesessen hatten, auf so grauenhafte Weise ermordet worden ist.«
    Sein freundliches Gesicht drückte soviel Mitleid aus, daß ich fast versucht war, sein Angebot, mit ihm Kaffee zu trinken, doch anzunehmen und gleichzeitig seine Neugier zu befriedigen, die er so schlecht verbergen konnte. Aber mein Drang, zu meiner Entdeckung zurückzukehren, war einfach zu stark. Ich dankte ihm also für sein Mitgefühl und stieg die Stufen zum oberen Stockwerk hinauf.
    Ich lauschte einen Moment, um mich zu vergewissern, daß er mir auch nicht folgte, dann zog ich das Manuskript aus dem Folianten, in dem ich es am gestrigen Nachmittag hinterlassen hatte, und legte es vor mir auf den Tisch. Der Anblick war Balsam für meine Seele! Dies war real, dies war es, worauf es wirklich ankam. Hier, in der Ausübung meiner wissenschaftlichen Fähigkeiten, lagen Ordnung, Vernunft und Wahrheit. Als ich begann, die verblaßte Schrift zu entziffern und zu übersetzen, fand ich mich in meiner gestrigen Annahme bestätigt: Ich hatte in der Tat ein Manuskript vor mir, das etwa um 1000 nach Christus verfaßt worden war, also beträchtlich früher als die Rezension von Grimbalds »Leben« aus dem Jahr 1120. Aber während ich weiterlas, geriet meine Überzeugung, daß das Manuskript bewies, daß das Werk existiert habe, bevor Leofranc es umgeschrieben hatte, angesichts großer Unstimmigkeiten ins Wanken. Es handelte sich zwar mit Sicherheit um eine Version der Geschichte der Belagerung von Thurchester und des Martyriums des heiligen Wulflac – obwohl weder der König noch der Bischof namentlich genannt waren –, doch unterschied sie sich stark von der Rezension aus dem Jahr 1120. Die Ereignisse blieben im großen und ganzen die gleichen, aber die Interpretation der Motive der handelnden Personen war eine völlig andere.
    Ich hatte kaum eine Stunde

Weitere Kostenlose Bücher