Die schwarze Kathedrale
schweigend nach Hause. Da es weit nach Mitternacht war, gingen wir sofort zu Bett. Ich fand lange keinen Schlaf. Hätte Perkins nur mehr wie ein Schurke gewirkt, hätte mich diese ganze Geschichte vielleicht nicht ganz so beunruhigt. Aber der Gedanke, daß dieser jungenhaft aussehende Mann, der ein ebenso offenes Gesicht hatte wie viele meiner Studenten, einem wehrlosen Greis, den er seit Jahren gekannt hatte, so etwas angetan haben sollte … Wie mußte das Blut gespritzt sein – und doch hatte er immer und immer wieder zugeschlagen … Das krachende Splittern der Knochen, die Verletzlichkeit der Augen … Der Gedanke, was er getan hatte, um den Kopf, das Gesicht derart zu zertrümmern! Es war schwer zu glauben. Es war schwer, überhaupt noch irgend etwas Gutes in unserer Spezies zu sehen. Waren wir denn etwas anderes als – grausame Affen, die Kleider trugen und ihre Körper wuschen und parfümierten?
Ich mußte an Gambrill denken, der seinen Rivalen ermordet hatte, indem er ihn vom Dach der Kathedrale stieß, an den jungen Limbrick, der, angestachelt von seiner verbitterten Mutter, insgeheim jahrelang darüber nachgesonnen hatte, wie er seinen Vater rächen könnte, und dennoch seinen Haß verbarg und Wohltaten von dem Mann entgegennahm, den er eines Tages töten wollte. Hatte Gambrill wohl etwas von diesem heimlichen Haß geahnt und versucht, den Jungen zu versöhnen, indem er ihn förderte?
Aber am meisten dachte ich an das Manuskript, und ich bedauerte, daß die Mordgeschichte mich davon ablenkte. Wie konnte ich nur sicherstellen, daß es nicht dazu mißbraucht wurde, den persönlichen Interessen von irgend jemandem zu dienen? Denn dieses Dokument gehörte der Geschichte und nicht irgendeinem Individuum oder einer Institution. Endlich fiel ich in einen unruhigen Schlaf, der noch erschöpfender war als Schlaflosigkeit. Kurz vor Tagesanbruch hatte ich den schrecklichsten Traum meines Lebens, aus dem ich mit klopfendem Herzen und schweißnasser Stirn aufschreckte. Es war einer jener Alpträume, die einen langen Schatten über den ganzen folgenden Tag werfen, als würde ein Teil des Gemüts versuchen, einen in die Traumwelt zurückzuziehen.
Freitag morgen
Ich erwachte in einem Zustand dumpfer Depression, zur Folge hatte, daß Austin und ich beim Frühstück kaum ein Wort wechselten. Außerdem mochte ich schon deshalb nicht mit ihm reden, weil ich die Probleme, die ich auf mich zukommen sah, noch eine Weile vor mir herschieben und daher Austin nicht erzählen wollte, daß ich das Manuskript gefunden hatte. Ich hoffte, daß er sich für meine Suche ebensowenig interessieren würde wie bisher und mir keine Fragen stellen würde, was ich an diesem Morgen vorhätte. Unmittelbar bevor wir das Haus verließen, fragte er jedoch: »Wo willst du hin?«
»Wieder in die Bibliothek.«
»Vergiß die gerichtliche Untersuchung nicht.«
»Wird sie denn heute stattfinden?«
»Das nehme ich an. Du mußt auf alle Fälle erscheinen. Du bist ein wichtiger Zeuge.«
»Ist meine Aussage denn wirklich von solcher Bedeutung?«
»Du brauchst nichts anderes zu tun, als zu schildern, was du gehört und gesehen hast. Ein Zeuge in deiner Stellung wird allen absurden Theorien, die Adams vorbringen könnte, um sich wichtig zu machen, einen Riegel vorschieben.«
Ich nickte und zog meinen Mantel an.
Nach einer Weile sagte er: »Ich nehme an, daß du Locard treffen wirst?«
»Das möchte ich bezweifeln.« Ich mußte daran denken, daß er unsere Verabredung nicht eingehalten und mir seine versprochene Unterstützung nicht hatte zukommen lassen.
»Falls du ihn siehst, sag ihm auf keinen Fall etwas von dieser Angelegenheit.«
»Warum nicht?«
»Er ist ein Unruhestifter. Er würde alles, was du ihm mitteilst, seinen eigenen Interessen entsprechend verbiegen.«
»Was für Interessen sollte er denn ausgerechnet in dieser Sache verfolgen?«
»Sehr gewichtige sogar. Es wurde immer behauptet, daß Stonex sein Vermögen der Stiftung hinterlassen würde. Locard würde es nur zu gern in die Finger bekommen.«
»Wenn ein dementsprechendes Testament gefunden wird, dann kriegt er es, sonst nicht.« Ich sagte das ziemlich gleichgültig, denn ich war überzeugt, daß Austin nur seine Abneigung gegen Dr. Locard zum Ausdruck brachte, deren Ursachen in der Politik des Domkapitels begründet lagen. Ich vermutete, daß er wütend war, weil der Kanzler Sheldrick bei der Sitzung des Domkapitels am Morgen zuvor den kürzeren gezogen hatte. Das war
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