Die schwarze Kathedrale
Scuttards These unterstützt, daß Alfred von den Dänen besiegt wurde, sich ihnen ergab und Tribut zahlte?«
Da ich meiner Stimme nicht traute, nickte ich stumm. »Es erscheint mir sehr wahrscheinlich, daß jemand während der Zeit des Königs Alfred – sagen wir um der Diskussion willen, daß es Grimbald war – einen Bericht über die Regierungszeit des Königs verfaßte, der sehr viel enthielt, was Alfred in Mißkredit brachte. Zweihundert Jahre später hat Leofranc ihn so verändert, daß er ihn glorifiziert, weil das seinen eigenen Interessen diente, welche darin bestanden, aus Wulflacs Grab einen Ort der Verehrung in ganz Europa zu machen. Erscheint Ihnen das nicht eine vernünftige Hypothese?«
»Vielleicht«, sagte ich verzweifelt. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie enttäuscht ich war. War das die Wahrheit über Alfred? War er ein mörderischer, feiger Verräter gewesen? Würde sich herausstellen, daß meine große Entdeckung eine grundlegende Neubeurteilung der alfredischen Zeit notwendig machte – wie ich gehofft hatte –, jedoch in einer Weise, die mir größte Schmerzen bereitete?
»Das Latein ist natürlich miserabel«, sagte Dr. Locard. »Der Text weist ein ausgesprochen unschönes stilistisches Merkmal auf, das mich an irgend etwas erinnert, wobei ich noch nicht weiß, woran; vielleicht fällt es mir ja noch ein.« Er stand auf. »Ich muß den Domkustos ausfindig machen, um ihn zu fragen, was mit Gambrills Leiche geschehen ist.«
»Es ist nicht Gambrills Leiche«, berichtigte ich und freute mich, daß ich ihn korrigieren konnte. »Sie hat beide Augen.«
»Wirklich?« Er starrte mich an. »Das ist ja interessant.«
»Was meinen Sie, wessen Leiche es sein könnte?«
Er überlegte einen Augenblick und setzte sich wieder hin. »Es gibt nur eine Möglichkeit: In dieser Nacht sind zwei Männer gestorben.«
»Burgoyne? Aber seine Leiche wurde doch gefunden.«
»War das tatsächlich Burgoynes Leiche? Der Tote, den man unter dem Gerüst herausholte, wurde anhand seiner Kleidung identifiziert.«
»Aber wenn es Gambrill gewesen wäre, hätte man ihn doch an seinem fehlenden Auge erkannt.«
»Das glaube ich nicht, weil sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerstört war. Beide Männer waren groß und etwa gleich alt. Es war einfach die naheliegendste Annahme. Naheliegend, aber falsch, wie naheliegende Annahmen es so oft sind. Das hat mich meine Erfahrung als Historiker gelehrt.«
Seine Worte erinnerten mich an Mr. Stonex und lösten einen Gedankengang aus, den weiterzuverfolgen ich jetzt nicht die Muße hatte. Ich zwang mich dazu, mich wieder auf das Thema zu konzentrieren, von dem gerade die Rede gewesen war, und fragte: »Wer hat dann Burgoyne und Gambrill auf dem Gewissen? Und was waren die Motive des Täters?«
»Sie wurden nicht vom gleichen Mörder getötet. Gambrill hat Burgoyne umgebracht, und er muß es als einen sehr makabren und ironischen Scherz betrachtet haben, ihn hinter der Gedenktafel für seine eigene Familie einzumauern, diesem verhaßten Objekt, das der Anlaß für soviel Mißstimmung zwischen den beiden gewesen war.«
»Dr. Carpenter hat uns gerade versichert, daß er lebendig eingemauert wurde und erstickt ist.«
Dr. Locard hob eine Augenbraue. »Wirklich ein sehr grimmiger Scherz. Aber dann nahm der ›Scherz‹ eine neue Wendung, weil Gambrill selbst unmittelbar darauf ermordet wurde, als nämlich jemand das Gerüst über ihm zum Einsturz brachte.«
»Vermutlich Limbrick?« schlug ich vor.
»Ganz bestimmt sogar! Und zwischen den beiden Morden besteht ein Zusammenhang. Denn Sie erinnern sich bestimmt, daß Gambrill von Schuldgefühlen wegen eines schrecklichen Verbrechens gequält wurde, wie aus seinem Betragen ersichtlich war, als Burgoyne drohte, ihn zu verraten.«
»Und Gambrills geheime Schuld bestand darin, daß er Limbricks Vater getötet hatte?«
Er sah mich überrascht an. »Das wissen Sie?«
»Aber wie hat Burgoyne das Ihrer Meinung nach herausgefunden?«
»Ich nehme an, daß Gambrill es ihm gebeichtet hat, als sie noch auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen. Doch in dem Moment, als sie zu Feinden geworden waren, fürchtete er, daß Burgoyne ihn verraten würde.«
»Und deshalb tötete er ihn«, stimmte ich zu. »Aber was er nicht wußte, war, daß Limbrick noch viel gefährlicher für ihn war. Wie kam das?«
Dr. Locard lächelte. »Limbrick war noch ein Kind, als sein Vater starb. Aber wenn es zwischen zwei Männern einen mörderischen Konflikt
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