Die schwarze Kathedrale
hat, verleiht ihr Gewicht.«
»Ihre Logik besteht also darin, immer die diskreditierendste Version als zutreffend zu akzeptieren.«
»Warum sollte Cinnamon lügen? Was hatte er denn zu gewinnen?«
»Wer weiß? Aber er behauptet, daß Freeth zum Schatzamt und nicht zur Bibliothek rannte?« Mir fiel ein, daß Stonex die Aussage von Pepperdines Augenzeugen deshalb als unrichtig verwarf, weil man die Bibliothek vom Fenster seines Eßzimmers aus nicht sehen konnte.
»Der damalige Amtssitz des Schatzmeisters ist heute Teil der Bibliothek. Er war so stark beschädigt, daß der Schatzmeister in ein anderes Gebäude zog.«
Dann konnte Pepperdines Augenzeuge vielleicht doch recht gehabt haben! Einer Eingebung folgend, fragte ich: »War Cinnamon vielleicht der Kantor?«
»Ja, das war er. Halten Sie diesen Umstand für wichtig?«
»Möglicherweise ja.« Ich hatte eine Theorie entwickelt, was sich vielleicht wirklich ereignet haben mochte, indem ich versucht hatte, mir die Intrigen am Domkapitel jener Zeit dadurch verständlich zu machen, daß ich mir vor Augen führte, wie Ressentiments und Mißverständnisse innerhalb meines eigenen Colleges – ebenfalls einer geschlossenen Gruppe von Männern mit weitgehend abstrakten Interessen – über Jahre hinweg geschwärt hatten.
In diesem Augenblick schlug die Uhr der Kathedrale die Stunde, und Dr. Locard erhob sich. »Leider muß ich mich jetzt um meine Amtsgeschäfte kümmern.« Bevor er die Treppe hinunterging, wandte er sich noch einmal um. »Ich hoffe, daß Ihre Zeugenaussage die Geschworenen nicht daran hindern wird, die Wahrheit zu erkennen, nämlich daß Perkins das Haus bei seiner Suche nach dem Testament in ein solches Chaos verwandelt hat.«
»Ich muß genau das beschreiben, was ich gesehen habe, Dr. Locard. Das ist meine Pflicht als Zeuge.«
Er zögerte und sagte dann: »Soviel ich weiß, unterstützt Fickling Ihre Aussage nicht?«
»Ihm ist die Unordnung etwas weniger aufgefallen als mir; nichts weiter.«
»Dennoch, meinen Sie nicht, daß es peinlich wäre, wenn Sie sich vor Gericht gegenseitig widersprechen würden?« Er verabschiedete sich mit einem letzten »Guten Morgen« und stieg die Treppe hinunter.
Während seine Schritte in dem alten Gebäude verhallten, saß ich da und starrte auf das Manuskript. Er hatte mich aller Freude daran beraubt, und das nahm ich ihm übel. Ich war auch erbittert darüber, daß er mich mit seinem überlegenen Wissen und seinen Einsichten in die Burgoyne-Affäre geärgert hatte. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß er mich hatte zappeln lassen wie einen Fisch an der Angel. Welche Bedeutung kam dem Tod des Jungen zu, der in der gleichen Nacht gestorben war wie Burgoyne? Bestand ein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen, und wenn ja, welcher? Ich konnte mir nicht erklären, was der Bibliothekar hatte andeuten wollen. Auch das Bild des Dekans, der ein Gebäude seines eigenen Domplatzes in Brand steckte und nur wenige Augenblicke vor seinem Tod in eine Rauferei mit einem anderen Domherrn verwickelt war, verfolgte mich. Wenn all das tatsächlich geschehen war, was mochte dann wohl dahinterstecken?
Wenn ich rechtzeitig zur gerichtlichen Untersuchung kommen wollte, mußte ich jetzt zum Essen gehen. Als ich die Bibliothek verließ und über den Domplatz blickte, konnte ich das neue Dekanat erkennen. Pepperdines Zeuge hatte also recht gehabt, und seine Version der Ereignisse durfte nicht unberücksichtigt bleiben. Ich ging in mein gewohntes Wirtshaus und dachte darüber nach, wie seltsam es war, daß ich Essen und Bedienung kaum zumutbar gefunden hatte und dennoch immer wieder dorthin zurückkehrte. Vermutlich zog ich ein bekanntes Übel der Gefahr vor, es könnte mich woanders noch Schlimmeres erwarten. Ich fragte mich auch, wo Austin wohl war und inwieweit er von den Auseinandersetzungen innerhalb des Domkapitels betroffen war.
Beim Essen dachte ich darüber nach, wie sehr Cinnamon als für die Musik verantwortlicher Domherr Freeth gehaßt haben mußte. Angenommen, daß er die Wahrheit gesagt hatte, worum hatten die Domherren dann miteinander gekämpft? Plötzlich fiel mir etwas ein, was Dr. Locard vor zwei Tagen gesagt hatte: »Der beste Beweis für eine Fälschung ist das Original, auf das sie sich stützt.« Wenn Hollingrake das Original der Schenkungsurkunde besaß, die er und Freeth gefälscht hatten, um Burgoyne daran zu hindern, die Chorschule aufzulösen, dann hatte er eine enorme Macht über den Dekan. Bestimmt
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